Die Kirche hat keine Zukunft. Aber welche? (4/5)

Ich gestehe, dass ich zuerst mit Skepsis an dieses Buch herangegangen bin: Theresa Brückner, Loslassen, Durchatmen, Ausprobieren (Herder-Verlag, 2024). Ich konnte mir nicht so recht vorstellen, dass eine Pfarrerin, die im digitalen Raum zu Hause ist und dort wirkt, maßgeblich und substanziell etwas zur Zukunft und Weiterentwicklung der Kirche beitragen kann. Die vielen gut gemeinten Ratschläge und Empfehlungen in den letzten Jahren im Blick auf die Digitalisierung des kirchlichen Lebens veranlassen mich zur Zurückhaltung. Tatsächlich sah es zunächst auch so aus, als würde meine Skepsis bestätigt werden. Am Ende aber wurde sie mehr als zerstreut und macht der Überzeugung Platz, dass wir hier ein nicht ganz unwichtiges Buch zum Thema vorliegen haben.

 

Die Autorin ist als Jugendliche zur Kirche gestoßen und hat dort „tiefe und prägende“ Erfahrungen (11) gemacht, als Mitarbeitern, Mitglied einer Band, oder Begleiterin von Konfirmand:innen. Später studierte sie Theologie und engagierte sich weiterhin ehrenamtlich“ „Das Miteinander und Arbeiten in der Kirche… hat etwas mit mir gemacht. Nicht immer nur Gutes. Mehr und mehr habe ich mich… gefragt, was ist sonst noch so alles mit meinem Leben hätte anstellen können.“ (12) So deutet sie an, dass sie ihre Berufswahl sie zwischendurch verunsichert hatte. Hätte es Alternativen gegeben? Dann entscheidet sie sich, „dass ich so gedanklich nicht weitermachen kann“. Sie überlegt, was ihr aus der negativen Gedankenspirale heraus hilft, und entwickelt Perspektiven und Herangehensweisen, die ihr helfen, „inspiriert und zukunftsorientiert“, aber auch realistisch „in der Kirche zu arbeiten und zu denken.“ (12) Was sie dabei entdeckt hat, stellt sie in diesem Buch vor. Sie schreibt als „Pfarrerin für Kirche im digitalen Raum“, die es so bisher noch nicht gegeben hat. Sie berichtet, dass ihr Superintendent (eines Berliner Kirchenkreises) ihr „das gleiche Vertrauen in“ ihre „theologischen Kompetenzen beim Erstellen meiner Videos und Posts“ entgegenbringt, „wie bei meinen Predigten“, wofür sie sehr dankbar ist und was ihr die Möglichkeit gibt, ihren Dienst mit einer „Probier einfach aus“-Einstellung anzugehen. Sie hat mit vielen unterschiedlichen Menschen zu tun, sie sind mit der Kirche stark verbunden oder ausgetreten, ihr Glaube spielt eine lebensbedeutende Rolle oder sie haben keinen Bezug mehr dazu (22). Sie entdeckt, dass „Glaube und Spiritualität… etwas mit Neugierde zu tun hat“, was sich auch in den sozialen Medien spiegelt. „Die Tatsache, dass sie aus der Kirche ausgetreten sind, bedeutet nicht automatisch, dass sie auch nicht mehr an Gott glauben und kein Interesse mehr an Glaubensfragen haben. Wie groß das Interesse daran ist merke ich als Digitalpfarrerin.“ (36) Sie denkt über verschiedene Formen der Kirchenmitgliedschaft nach und fragt, ob es nicht, ähnlich wie bei Vereinen so etwas wie „Förder-, Jugend-, Probe- und Gastmitgliedschaften gibt.

 

Die Kirche hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gerne von Methoden aus dem Wirtschafts- und Unternehmens-Management inspirieren lassen, was sich teilweise auch in den anderen hier besprochenen Büchern widerspiegelt. Auch Theresa Brückner scheut davor nicht zurück und bedient sich der NABC-Methode. Befragt man ein KI-Programm danach, bekommt man folgende Antwort (vgl. https://www.mosaiic.de/geschaeftsmodelle-weiter-entwicklen-mit-der-nabc-methode-effizient-zum-ideenschatz/ oder https://www.consulting-life.de/nabc-methode/): „Die NABC-Methode ist ein Werkzeug zur Entwicklung und Bewertung von Geschäftsmodellen und Ideen. Das Akronym NABC steht für Need (Bedarf: Welche Bedürfnisse oder Probleme haben potenzielle Kunden? Was löst die Idee?), Approach (Ansatz: Wie wird das Problem gelöst? Welche Lösung oder welches Produkt/Service wird angeboten?) Benefit (Nutzen: Welche Vorteile bietet die Lösung für die Kunden und das Unternehmen?) und Competition (Wettbewerb: Welche Alternativen oder Konkurrenten gibt es? Was sind die Alleinstellungsmerkmale der Lösung?). Diese vier Perspektiven helfen dabei, eine Geschäftsmodellidee aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und zu bewerten und Ideen klar und strukturiert zu präsentieren und sicherzustellen, dass alle wichtigen Aspekte berücksichtigt werden.“

 

 

Brückner überträgt die Methode auf ihr Arbeitsfeld und fragt: „Was brauchen die Menschen wirklich?“ (Needs); „Wie reagieren wir auf die Bedürfnisse der Menschen?“ (Approach); „Was bringt unser Angebot den Menschen und was bringt es der Kirche“ (Benefit); und: „Was macht unser Angebot einzigartig?“ (Competiton). Wie auch schon an anderer Stelle festgehalten, sei auch hier darauf hingewiesen: Es bekommt der Kirche nicht gut, wenn sie als Wirtschaftsunternehmen angeschaut und dementsprechend behandelt wird - statt nach dem Wesen der Kirche zu fragen und danach, wie eigentlich eine Kirche funktioniert - und das tut sie ganz anders als ein Unternehmen. Zur Anwendung solcher Methoden gehört auch die Evaluation, als die Überprüfung, inwieweit sich die Anwendung einer Methode messbar auswirkt. Aber was soll in der Kirche gemessen werden und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Die Fragen die Brückner in Anwendung der NABC-Methode stellt, sind gewiss nicht unangemessen, aber sie zielen auf die vorhandene Institution Kirche. Damit wird von vorneherein die Frage ausgeschlossen, ob die real existierende Kirche überhaupt noch sinnvoll für die Kommunikation des Evangeliums ist und ob diese sich nicht auch ganz anderer Wege bedient, aber eben solche, die durch solche Management-Methoden nicht erfassbar sind.

 

 

 

Es zeigt sich dann aber schnell, dass Brückner die NABC-Methode nicht nach Lehrbuch anwendet, sondern sich lediglich dazu anregen lässt, die genannten Fragen zu stellen - und bei ihr sehr wohl die Frage, wie eine Kirche funktioniert, im Hintergrund steht, wozu sie die NABC-Methode aber nicht gebraucht hätte.

 

Im 3. und 4. Kapitel reflektiert sie ihre eigene Rolle als Pfarrerin in der Kirche (im Blick auf Work-Life-Balance und Ästhetik), das 5. ist dem „Mut zum Feminismus“ gewidmet und das 5. Kapitel den Grenzverletzungen und der sexualisierten Gewalt. Diese vier Kapitel sind wichtig, weil in ihnen der Abschied illustriert wird, den Brückner eingangs gefordert hat – kein Abschied von der Kirche, das gerade nicht, wohl aber ein Abschied von Mentalitäten, die die Kirche jahrzehntelang dominiert haben. Sie drücken sich aus in tatsächlich gefallenen Äußerungen, die sie als Zwischenüberschriften zitiert, z. B.: „Sie haben sich einen Tag krankschreiben lassen, weil Sie überlastet waren? Dann müssen Sie sich an den Beruf aber noch gewöhnen – im Pfarramt arbeitet man so“, oder: „Sie müssen schon öfter im Seniorenheim Gottesdienst machen, das freut die alten Männer so“. Es ist die zwischen 1946 und 1964 geborene Babyboomer-Generation, die sie geprägt hat, während sie sich selbst der „Generation Y (oder „Why“) zurechnet. „Dieses Warum… ist genau das, was meine ersten Jahre als Pfarrerin prägte… Warum lass bin ich dabei?... Warum lasse ich diese Kirche nicht hinter mir? Warum arbeite ich sogar in dieser Kirche, wenn mir immer wieder so herablassend begegnet wird?“ (21f.)

 

Das letzte Kapitel „Mut zur digitalen Kirche“, das wichtigste dieses Buches, macht deutlich, was die Kirche sein kann, nachdem sie diesen Abschied vollzogen hat, und zeigt auch: Sie ist durch und durch Pfarrerin und durch und durch evangelisch. Man sollte sich dazu einige ihrer inzwischen zahlreichen Videos auf Youtube anschauen. „Wir feiern Gottesdienste so, wie wir sie gerne feiern möchten, digital, ohne dass einfach nur das Analoge übertragen wird… mit dem gemeinsamen Anzünden einer Kerze, dem Auffangen der Gedanken der Teilnehmenden in einer Wortwolke, verschiedenen Segensritualen und digitalem Abendmahl. Genau so sind wir Kirchen per Definition des Augsburger Bekenntnisses…: Wir versammeln uns mit den Gläubigen, sprechen über das Evangelium und feiern das Abendmahl (CA7)“. (121) Unter Menschen, die das Internet nicht nur nutzen, sondern darin und damit leben, gestaltet Brückner Kirche, die erkennbar evangelisch ist. Das tut sie, indem sie die Freiheit nutzt, die ihr in der Wahrnehmung ihres Pfarramtes gewährt wird: „Es gab keine festgesetzten Pläne, einen Aufgabenkatalog oder eine Hidden Agenda - ich durfte gerade die ersten Monate recherchieren und ausprobieren, womit ich mich wohlfühle und was zu diesem Pfarramt passt.“ Ein wichtiges Instrument ist, was sie „storytelling“ nennt – sie lässt andere an ihrem Leben und ihren Erfahrungen teilhaben. „Ich nehme die Menschen mit auf dem Weg, in meinen Begegnungen, in meinem Alltag. Wenn ich auf eine Dienstreise gehe, dann zeige ich in meiner Story den Zug, erzähle, was ich auf der Fahrt mache, zeige den Ort, an dem ich ankomme, und berichte dann von meinen inhaltlichen Schwerpunkten.“ (126) „Ich zeige mich dabei als Person in den sozialen Medien mit meiner Arbeit in der Kirche, meinem Leben, meinem Glauben, meinen Lebenseinstellungen und Bekenntnissen – das alles spricht von meinem Glauben und von Gott.“ (130) Sie nennt es „implizite Kommunikation des Evangeliums und der christlichen Botschaft – sie ist enthalten, wird aber nicht ausdrücklich benannt.“ (131)

 

Ich gebe zu, dass ich einige innere Widerstände überwinden musste, um mich auf dieses Buch einzulassen – das ist nicht gerade meine Welt und ich gehöre ja auch zur Babyboomer-Generation. Doch mag es eines der wichtigsten sein, die sich mit der Zukunft der Kirche befassen. Es zeigt, wie die Kirche sich, man kann es so sagen, tiefgreifend wandelt und dabei trotzdem die evangelische Kirche bleibt. Theresa Brückner baut Gemeinde unter den Neugierigen, den spirituell Suchenden, den Ausprobierenden,  die man möglicherweise nur so erreicht.

 

Jedoch wird auch deutlich, dass die Kirche im digitalen Raum zur tatsächlich, physisch am selben Ort versammelten Gemeinde eine unverzichtbare Ergänzung bildet, diese aber nie wird ersetzen können. Der großen Reichweite und die durch das Internet neu geschaffenen Möglichkeit, sich unverbindlich, ohne sich zu erkennen zu geben und testweise sich auf die Kirche und ihre Botschaft einzulassen entsprechen Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Kontinuität der Gemeinde, die sich am selben Ort zu versammel gewohnt ist. Die Kirche wird sich Zukunft in beiden Welten, digital wie analog ereignen, nie nur in der einen oder anderen.

 

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