
Sollten sich Theresa Brückner, die Autorin des oben besprochenen Buches und Ralf Frisch, der dieses Buch Was fehlt der Evangelischen Kirche (Ev. Verlagsanstalt, 2017) geschrieben hat, irgendwann einmal begegnen – zu Freunden werden sie nicht werden. Die eine möchte Abschied nehmen von einer Kirche und ihren überlebten Mentalitäten. Der andere, in ihr von klein auf zu Hause, möchte sie bewahren. Er fühlt sich „keineswegs wie ein Vogel im Käfig, sondern in ihr zu Hause“ und möchte „in keiner anderen Institution arbeiten“ und mit seinem Buch „eine Liebeserklärung“ abgeben, auch wenn er sich „zugleich aus tiefstem Herzen nach einer anderen evangelischen Kirche“ sehnt (14). Die eine experimentiert, probiert sich aus, der andere analysiert. Die eine befasst sich mit der Schönheit und widmet ihr ein ganz ein ganzes Kapitel, der andere auch, aber er tut es in sehr entgegengesetzter Weise.
Ralf Frisch beschreibt, was in der evangelischen Kirche fehlt. Beim Lesen hatte ich zwischendurch den Eindruck, dass dieses Buch gar nicht in diese Reihe gehört, weil der Autor nicht beschreibt und wohl auch nicht beschreiben will, wie er sich den weiteren Weg denkt, vielmehr, in welchem Zustand sie sich befindet. Aber warum hat er dann dieses Buch geschrieben? Wenn er keine Botschaft hätte, dann gäbe es keinen Anlass für dieses Buch. Was aber ist die Botschaft? Ralf Frisch stimmt einen Klagegesang an, und zwar einen, der mir sehr vertraut ist seit den Zeiten, als ich Jugendlicher, Pfarrerssohn und angehender Theologiestudent war. Das war in den 1970er-Jahren, als eher Konservative der evangelischen Kirche vorwarfen, sie hätte sich die marxistische Religionskritik (Opium fürs Volk) zu eigen gemacht: „Könnte es sein, dass das Problem des gegenwärtigen Protestantismus darin liegt, dass es die marxistische Religionskritik so verinnerlicht hat… dass Religion… kein Thema mehr ist?“ Ich erinnere mich noch sehr gut, wie damals Dorothee Sölle zum Feindbild wurde (vgl. 189), weil sie „Theologie nach dem Tode Gottes“ trieb (was mich beim weiteren Lesen etwas stutzig werden ließ, weil seiner Meinung nach die „christliche Religion… als Frucht der Passion Jesu selbst a-theistisch und weil ihr Atheismus scharfsichtiger und tiefenschärfer ist als der Atheismus der Religionsverächter“ (201)). Vertraut aus dieser Zeit ist mir auch der das ganze Buch durchziehende Generalverdacht gegen alles, was sich als liberal versteht und die Rede von „Kirche in ihrer Nacktheit“ (27ff.), die sie „durch Umtriebigkeit, Weltveränderungspathos und sozialmoralische Appelle zu kompensieren sucht.“ (28) Der Protestantismus war von Anfang an „Repräsentant der Entzauberung der Welt“ und nimmt bis heute an einem „Entsakralisierungsprogramm“ teil und fragt sich, ob ihre „Wiederverzauberung“ und „Resakralisierung“ gelingen kann, denn „der metaphysich entwurzelte, transzendental obdachlose Mensch, der auf seine Selbstbestimmung zu pochen pflegt, fällt der Fremdbestimmung freiheitsgefährdender Mächte und Gewalten… zum Opfer“ und es ist die „befreiende Macht Jesu Christi, dessen Evangelium den Menschen auch von der Versuchung befreit, Mächte für absolut zu halten“. (147)
Nachhaltig wirbt Frisch für die evangelische Kirche „als spiritueller Ort der Präsenz des Heiligen“. Doch im wirklichen Leben kommuniziert sie „vor allem Sozialmoral, Sozialromantik und bestimmte politische Programmatiken, statt an Gott als Geheimnis, als letzten Grund, als letzten Sinn und als letztes Ziel der Welt zu erinnern“, (182) das Evangelium droht sich „rückstandsarm in Zwischenmenschlichkeit und Humanismus aufzulösen“. (183) Frisch plädiert „nachdrücklich für die Wiederentdeckung einer Ästhetik, die die Füße der Menschen in Kirchenräumen auf jenen weiten Raum stellt, in dem Leib, Seele und Geist offen werden können für die Gegenwart des göttlichen Grundes des Seins und für das menschliche Geheimnis der Liebe Gottes“.
Was in Ralf Frischs Buch auffällt, ist zum einen, dass er immer wieder in eine dogmatische Sprache fällt, zum anderen, dass er seine Urteile stets pauschal fällt und nie die Adressaten seiner Kritik nennt – auch das war, daran erinnere ich mich noch, in der konservativen Kirchenkritik der 1970er-Jahre so üblich. Es ist stets „die“ evangelische Kirche oder „die“ evangelische Theologie oder es sind „die“ Kirchenleitungen, aber niemand soll sich direkt angesprochen fühlen. Ein Beispiel dafür ist die Diskussion um einen würdigenden Bezug auf die Barmer Erklärung in den Grundartikeln der bayrischen Kirchenverfassung. Da ist von „Vertretern der liberalen akademischen Theologie“ die Rede (168), die heftig dagegen sind, weil das nur Porzellan zerschlagen könnte; sie möchten die „christliche Identifizierbarkeit“ der evangelischen Kirche „und Christus selbst auf dem Altar der offenen, multireligiösen Gesellschaft opfern“. Man hätte nur gerne gewusst, wer diese liberalen Barmen-Kritiker sind und was sie tatsächlich gesagt haben – eine Anmerkung mit Quellenangabe hätte ja schon gereicht.
Frisch beschreibt, was ihm an seiner Kirche fehlt, aber die Darstellung von Entscheidungen und Schritten hinaus aus der Misere ins Offene war nicht vorgesehen. Das lässt die Leserinnen und Leser seines Buches (ich vermute, dass es nicht nur mir so geht) unbefriedigt zurück. Deswegen reagiere ich hier auf dieses Buch mit drei Klarstellungen:
1. Es bleibt dabei, dass nach evangelischem Verständnis die Ästhetik ein Adiaphoron ist! Sie ist gewiss nicht unwesentlich, aber, ebenso wie das „Heilige“, kein Wert an sich. Dass es ein Leiden unter einer weit verbreiteten „sozial-demokratisierten Mehrzweckästhetik“ (187) gibt, soll nicht bestritten werden, aber auch nicht, dass auch eine genuin evangelische Schönheit gibt, die von Schlichtheit, Reduktion und Konzentration gekennzeichnet hat und oft eine größere Wirkung hat als gotische oder barocke Ästhetik. Doch lässt sich die Präsenz des „Heiligen“ nicht losgelöst vom Evangelium inszenieren (wobei „inszenieren“ nicht „darüber verfügen“ heißt), weil sonst das „Heilige“ (oder die Schönheit) das Evangelium auch leicht verschleiern und verundeutlichen kann. Um das dahinter stehende Anliegen des Autors aufzugreifen, wäre zu überlegen, ob man nicht statt von einer Kommunikation des Evangeliums von einer Inkarnation der Evangeliums sprechen müsste. Das würde deutlich machen, dass das, was kommuniziert wird, nicht schon dadurch wirklich ist und sich ereignet. Das Evangelium zielt aber genau darauf ab, dass es zur Wirklichkeit, zum Ereignis wird, das einen anrührt und bewegt und das sich anschauen, vergegenwärtigen, inszenieren und erzählen lässt.
2. Das Gedeihen der Kirche hängt nicht davon ab, wie sehr oder wie wenig liberal in ihr Theologie betrieben wird. Entscheidend aber ist und wird sein, ob in ihr die evangelische Freiheit verwirklicht ist, in Gestalt der Freiheit eines Christenmenschen, der Freiheit der Versammlung (ekklesia) vor Ort, der Freiheit des Pfarramtes und der Freiheit der Theologie. Von ihr hängt schlicht alles ab, aber derzeit ist es um sie nicht gut bestellt.
3. Das hat auch seinen Grund in den gängigen kirchlichen Strukturen, die Ralf Frisch in seinem Buch überhaupt nicht in Frage stellt. Wenn die evangelische Freiheit gefährdet oder beschädigt ist, dann gerade durch sie! Er bemängelt, das „Protestanten nicht selten ein zwiespältiges Verhältnis zur Hierarchie und zur Wahrnehmung von Macht“ haben und ebenso „nicht selten ein unreflektiertes zur geistlichen Dimension kirchlichen Leitungshandelns“ (208). Er plädiert dafür, Pfarrerinnen und Pfarrer in Ruhe und mit ganzer Kraft und Energie Priesterinnen und Priester sein zu lassen“ (208) statt dass „bei jeder Gelegenheit das Bekenntnis zum Priestertum Aller abgelegt und hochgehalten wird“ (207). Frisch stellt das Verhältnis von Oben und Unten nicht in Frage und verstärkt die an der Spitze zentralisierte Macht sogar noch, wenn er den Verwaltungsfachleuten und Management-Profis eine geistliche Führerin oder einen geistlichen Führer an die Seite stellen möchte. Mit solchem Klerikalismus und mit solcher Entmündigung lässt sich evangelische Freiheit und ein echtes Priestertum der Getauften nicht wirklich realisieren.
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