Drei Antworten auf eine offene Frage
Wir haben die Frage gestellt:
„Werden wir in Zukunft noch Volkskirche sein?
Wenn ja: Wie wird sich das ausdrücken?
Wenn nicht: Was werden wir sein?“
Drei Kolleginnen und Kollegen - Sebastian Baer Henney, Carolin Reichart, Ilka Werner - aus verschiedenen Arbeitsbereichen der Landeskirche haben schon einmal geantwortet. Wie denken Sie darüber? Wir freuen uns über Ihre Antworten, die wie gerne auf unserer Webseite dokumentieren. Diese Stellungnahmen sollten Sie und Euch dazu anregen!
Sebastian Baer
Henney
Pfarrer in Köln-Mühlheim und Leiter
des
Segensbüros „Hätzjeföhl“
Werden wir in Zukunft noch Volkskirche sein? Da möchte ich direkt die Gegenfrage stellen: Sind wir noch eine Volkskirche? Und antworte mit einem klaren Nein. Die Kirche, die ich als Gemeindepfarrer sehe, ist das nicht mehr. Ein Großteil der gesellschaftlichen Milieus wird von uns nicht erreicht. Es gibt auf der parochialen Landkarte große graue Flächen, wo faktisch keine Gemeindearbeit mehr stattfindet, sieht man einmal von der kasualen Grundversorgung ab, die übrigens auch immer dünner abgerufen wird: Freie Redner:innen sind beliebter denn je, während die Menschen oft noch nicht einmal wissen, dass Pfarrer:innen gute kasuale Arbeit machen und nicht bloß liturgische Versatzstücke vorlesen („Ich hätte gerne eine Beisetzung, die möglichst wenig kirchlich ist!“). Das besonders Paradoxe daran ist, dass wir als Kirche durchaus Relevantes zu sagen haben und zudem die Menschen außerhalb der kirchlichen Welt unfassbar spirituell unterwegs und auf der Suche nach Halt und Inhalten sind, die tragen. Nein, wir sind keine Volkskirche mehr, werden in der Breite nicht mehr wahrgenommen als ansprechbare Instanz für spirituelle Fragen, weil wir mit einem Bild konfrontiert werden, das im Wesentlichen geprägt ist von einer moralischen Kirchlichkeit der Fünfzigerjahre und dem Image einer überalterten Institution für Menschen über siebzig. Die Frage ist also nicht so sehr, was wir sein werden, die Frage ist, was wir sind.
Wir sind eine Institution, die hochqualifiziert ist, Menschen seelsorglich zu begleiten. Wir können in der überwiegenden Mehrheit gut von Gott sprechen. Wir sind auskunftsfähig, was unseren Glauben angeht und können den Menschen Halt bieten, wenn sie sich überfordert fühlen von Umbrüchen in ihrem Leben. Pfarrpersonen genießen nach wie vor einen großen Vertrauensvorschuss. Wir können gut mit Menschen, können gut feiern und sehr gut inszenieren. Und all dies sind die Ressourcen, mit denen wir arbeiten können und sollen, der Schatz, mit dem zu wuchern ist.
Wie wollen wir wuchern? Indem wir mit hörenden Ohren zu den Menschen gehen, die sich im Umfeld unserer Kirchen bewegen. In den Stadtteilen, den Dörfern, in unseren
Netzwerken. Indem wir uns ihnen mit hörender Haltung nähern, nicht mit dem Willen, ihnen zu zeigen, was richtig und gut ist, sondern mit der Offenheit, von ihnen über Gott zu erfahren. Denn Gott
spricht durch sie, und wir tun gut daran, darauf aufmerksam zu werden, wie Gott sich durch sie und in ihnen zeigt. Wenn wir das Unsere danebenlegen und dann daraus mit den Menschen zusammen
Formate entwickeln, dann entsteht im Dialog eine hochgradig relevante kirchliche Arbeit. Was also nach der Volkskirche kommt, ist eine Kirche der neuen Relevanz, die nicht aufgrund von
übereigneten Privilegien ins Leben der Menschen drängt und dort als fremdes und mitunter auch bedrohliches Wesen mit wenig nachvollziehbarem Anspruch auf Regelung von Alltagsfragen wahrgenommen
wird (Stichwort Tanzverbot an Karfreitag) sondern als Institution mit legitimem Anspruch an eine Alltagsethik, die aus einer inneren Logik heraus Auswirkungen auf das Leben hat. Dabei ist vor
zweierlei schwierigen Konsequenzen zu warnen: Es geht nicht darum, verlorenes Terrain nachträglich zu legitimieren und mit einem besserwisserischen Unterton als eine „Ich habe es doch schon immer
gewusst“-Frage zu legitimieren, also zum Beispiel an Halloween Lutherbonbons auszuteilen, die den Reformationstag zurückerobern sollen, dabei aber allenfalls mit Befremdung und Fremdscham
wahrgenommen werden und überdies nicht schmecken. Zweitens darf diese relevante Kirche nicht ihre Kernkompetenz aufgeben, nämlich die ihrem Auftrag nach Mt 28 innewohnende Rede von Gott. Die
Menschen sehnen sich nach einer Kirche, die nicht schamhaft einen Bogen um das Evangelium macht, sie wünschen sich eine Kirche, die von Gott spricht – nur eben so, dass sie es verstehen und
mitleben können.
Die Kirche der Relevanz ist dabei kleiner als die imaginierte Volkskirche heutiger Tage. Sie beruht aber auf einer realistischeren Einschätzung unserer kirchlichen Wirklichkeit und ist so in sich
intakter als das, was wir heute vorfinden. Sie ist sichtbar und bietet Raum zur inneren Auseinandersetzung: sie ist ein Gegenüber, was für viele Menschen die heute vorfindliche parochiale Kirche
nicht mehr ist. Spuren von der Kirche der Relevanz sind durchaus schon zu erkennen: Kirchenasyl, Solidarität mit Israel, Popup-Hochzeiten, Tauffeste, Segensrituale, Begleitung in der
Famliengründungsphase, Beistand in den Umbrüchen des Lebens: Jobwechsel, Umzug, Trennung, Coming Out. Ein Fest der Toten am Ewigkeits-Sonntag nach Vorbild des Segensbüros in Berlin. Es gibt sie,
die relevante Kirche, die auch von kirchenfernen Menschen als Attraktives Gegenüber auf Augenhöhe, als kompetente Ansprech-Instanz wahrgenommen wird. Und so sehr sie Hoffnung gibt, so sehr ist
sie auch ein Angang, weil sie Vieles infrage stellt – weil sie ausdrückt, was viele Menschen schon längst infrage stellen, die nicht auftauchen oder gleich austreten. Viele Dinge
gehören dabei auf den Prüfstand: die breitflächige Versorgung mit nahezu identischen Gottesdiensten am Sonntagvormittag, überhaupt die Gleichsetzung von Gottesdienstgemeinde und
Christ:innen-gemeinde, die an vielen Orte noch immer in den Köpfen herumgeistert. Das Kirchturmdenken, leider an einigen Orten immer noch verbunden mit der latent vermittelten passiv-aggressiven
Botschaft, dass die Menschen, die nicht kommen, einfach nicht wissen, was gut ist. Der Leidensdruck wächst momentan, und er zwingt uns zu Veränderungen, die noch vor zehn, ja teilweise vor fünf
Jahren undenkbar waren. Das gibt bei allem Schmerz Hoffnung. Hoffnung für relevantes kirchliches Arbeiten.
Carolin
Reichart
Landespfarrerin für die
Prädikant*innenarbeit
Sind PrädikantInnen Garanten der
Volkskirche?
NEIN
- wenn ich unterstelle, dass die dahinterliegende Frage eigentlich die ist, ob mit Hilfe von Prädikantinnen und Prädikanten eine flächendeckende gottesdienstliche Versorgung in allen Kirchen dauerhaft zu gewährleisten ist.
Abgesehen davon, dass ich nicht der Überzeugung bin, dass die Volkskirche in ihrer bisherigen Form aufrechterhalten werden kann (kühn gefragt: ob sie überhaupt so aufrechterhalten werden sollte), haben PrädikantInnen einen besonderen Verkündigungsauftrag und sind keine „Dorfkirchenretter“.
Fusionen und Vakanzen zwingen in der Tat dazu, die Zahl der Gottesdienststätten und die Häufigkeit der sonntäglichen Feiern zu prüfen. Schnell scheint eine Prädikantin dann als Retterin des Unterbezirkes, ein Prädikant als einfache Vertretungskraft, beide zusammen wohlmöglich als Ersatz von Pfarrpersonen. Es wird zunehmend Druck aufgebaut, die Gottesdienstgemeinde doch bitte nicht im Stich zu lassen, Amtshandlungen und Doppeldienste zu übernehmen und alle Lücken im Predigtplan zu schließen. Auch wenn ich die Not vieler Gemeinden verstehen kann, widerspricht diese Haltung sowohl dem Profil von PrädikantInnen als auch der Freiwilligkeit eines Ehrenamtes. Im Ehrenamt bestimmt jede/r selbst die Intensität des eigenen Engagements. Es soll nach „Maßgabe von Zeit und Kraft“ ausgeübt werden, was je nach Lebensphase sehr unterschiedlich sein kann. Die Ablehnung eines angefragten Dienstes ist absolut legitim. Fürsorgepflicht gegenüber den PrädikantInnen wird vernachlässigt, wenn die gemeindlichen Interessen über die persönlichen Kapazitäten gestellt werden. Die Verantwortung für die Beibehaltung des Status Quo wird auf Ehrenamtliche abgewälzt, anstatt neue Konzepte der „Sonntagsheiligung“ zu erarbeiten. PrädikantInnen werden als „Klerus minor“ gehandelt und wie Angestellte verpflichtet – und Kosten sparen sollen sie auch noch…
Doch zurück zur Frage:
Prädikantinnen und Prädikanten werden nicht die Volkskirche retten aber
JA
- sie haben eine besondere Nähe zur Bürgerschaft.
Das auszeichnende Profil der gut 700 ehrenamtlichen PrädikantInnen begründet sich gerade darin, dass sie nicht ausschließlich in der Kirchenbubble unterwegs sind. Sie bewegen sich außerhalb der Gemeinde in ganz eigenen Arbeitswelten und Lebenszusammenhängen. Sie folgen der „Hermeneutik der Alltäglichkeit“, mit der sie biblische Texte aufschlüsseln. Fragen, die vielleicht die sonntägliche Perikope beantworten könnte, haben sie in der Kantine aufgeschnappt. Das, was Menschen bewegt, wurde am Kaffeeautomaten im Pausenraum diskutiert. Das Tertium Comparationis zwischen Bibeltext und Lebenswelt ist ihnen im Lauftreff eingefallen. Kirchliche Insidersprache wissen sie in den Dialekt ihrer Nachbarn zu übersetzen. Sie können elementarisieren und kennen die Strategien anderer Betriebe, was innovative Anknüpfungspunkte bietet. Damit ergänzen sie die exegetischen und systematischen Überlegungen der Pfarrpersonen und haben ein großes Talent, Konkretionen in der Alltagswelt vieler Gemeindeglieder zu verankern. Genau deshalb ist ihnen ein Verkündigungsauftrag erteilt. Gerne werden sie gemeinsam mit anderen auch neue Gottesdienstformate entwickeln und feiern und unserer Kirche eine Gestalt geben, die glaubwürdig, wahrhaftig und zugewandt ist. Damit tragen sie zum Fortbestand der Kirche bei – auch wenn sie nicht mehr Volkskirche ist.
Ilka
Werner
Superintendentin des Kirchenkreises
Solingen
Meine Antwort: Nein, denn wir haben schon längst angefangen, es nicht mehr zu sein! Zahlenmäßig werden wir schnell immer kleiner und zu klein für die Idee, mehr oder weniger das religiöse Leben der ganzen Bevölkerung zu repräsentieren – ganz abgesehen davon, dass wir längst in einer religiös vielfältigen Gesellschaft leben. Inhaltlich bleibt zwar die Aufgabe, als Kirche nicht bloß nach innen gewandt zu agieren, sondern sich „an alles Volk“ zu wenden. Aber wir sind erst dabei, für diese Aufgabe neue Formen und eine neue Haltung finden. Prozessual kommt es eher aufs Loslassen von herkömmlichen Strukturen, Häusern, Stellen und Formaten als aufs Festhalten am Traditionellen an, allerdings auch darauf, das volkskirchliche Kind nicht mit dem Bade auszuschütten.
Im Kirchenkreis Solingen z.B. werden sich, wenn die Trends anhalten, die Zahl der Kirchenmitglieder, die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeitenden und die Finanzkraft gegenüber jetzt bis etwa 2040 halbieren, über die bisher umgesetzten schon deutlichen Einschnitte und Einsparungen hinaus. In dieser Situation auf dem Begriff Volkskirche zu beharren, würde eher ein Hindernis als eine Hilfe darstellen.
Was schwang denn mit in dem Wort „Volkskirche“? Dass mehr oder weniger alle in einer religiös allzuständigen christlichen Kirche organisiert waren, dass jede Straße und jeder Platz in jedem Dorf und jeder Stadt zu einer evangelischen (und auch katholischen) Gemeinde gehörte, dass jede Gemeinde für eine grundständige religiöse Versorgung von Kindesbeinen an bis ins hohe Alter sorgte und dass kirchliche Hauptamtliche in öffentlichen Kliniken, Schulen und Gefängnissen für das seelische Wohl (und manchmal auch das Seelenheil) da waren. Das alles gibt es nicht mehr flächendeckend, wohl aber noch exemplarisch.
Dieser Unterschied erscheint mir wichtig, denn er gibt einen Hinweis auf das, was wir werden können und vielleicht sein wollen sollten: eine kleinere, demütigere Kirche, die sich die Weltoffenheit und Weltzugewandtheit ihres Herrn bewahrt, die aber auf die früher angestrebte Dominanz in religiösen und vielfach auch ethischen Fragen verzichtet und zur Lobbyistin der Gottoffenheit in der säkularen Welt wird.
Ob diese Kirche auf einen Begriff zu bringen ist oder sein sollte, ist zu Recht noch offen. Vielleicht kann sie einfach nur Kirche sein und als solche alltags- und lebensnah agieren, in ihren Formen nah an den Bedürfnissen der Menschen und in ihrer Botschaft nah am biblischen Jesus und den Lebenswegen der Glaubensvorfahren. Sie wird flexibel sein, was Orte, Räume und Kooperationen mit anderen angeht, aber ziemlich stur, wenn es um ihre Sache geht und darum, ob sie dazugehört zum modernen Lifestyle. Sie wird mutig sein und experimentierfreudig, wenn es gilt, Gottesbezüge im Leben zu entdecken oder fürs Leben vorzuschlagen, und sie wird kreative Sinn-Stiftungen ersinnen. Sie wird diakonisch und seelsorglich sein. Sie wird sensibel sein für Macht und deren Missbrauch, sie kann um Verzeihung bitten für Übergriffe und wird tun, was sie kann, um safe spaces und religiöse Heimaten zu schaffen. Sie wird der Welt ihre Botschaft nicht schuldig bleiben.
Diese andere Kirche hat schwache Umrisse, solange sie noch im bröckelnden Rahmen der alten Volkskirche steckt: Körperschafts- und Beamtenstatus, Besitz und Besitzstandwahrung, die Rolle als Arbeitgeber und die Erwartungshaltung vieler Mitglieder bremsen, teils zu Recht, teils zumindest nachvollziehbar, den Veränderungsprozess und verwischen das Profil. Darum plädiere ich dafür, sie noch nicht auf einen Begriff zu bringen, sondern ihr Zeit zu geben, sich zu suchen und zu finden, in der Gewissheit, dass in ihr Jesu Zusage vom Salz-und-Licht-der-Welt-Sein groß und bestimmend werden wird.