Hans-Alex Thomas
Ist das eigentlich theologisch ohne Bedeutung, wenn ein Maler das menschliche Antlitz umgestaltet, bzw. verunstaltet? Wenn er beispielsweise die Nase an die Stirn verlegt, die Augen auf nur eine Gesichtshälfte drapiert und die weichen Formen in harte geometrische Flächen umwandelt. Oder wenn er in einem Frauenbildnis an dem Kinn einen erigierten Penis anbringt?
Ist das schön? Wegweisend? Symbolträchtig? Ästhetisch? Oder was ist es? Ist es vertretbar, dass solche Werke mit riesigen Geldsummen gehandelt werden?
Und wie ist das theologisch zu bewerten, wenn man sich von der Naturtonreihe emanzipiert und sich damit, etwa durch die Zwölftontechnik, praktisch von der göttlichen Schöpfung distanziert?
Die Zwölftonmethode verwendet eine Reihe aus den 12 Tönen der chromatischen Skala, von denen keiner wiederholt werden darf. Nach dem Ende der Reihe muss sie wieder neu begonnen werden, vielleicht aber auch in der Form des Krebses (rückwärts), der Krebsumkehr und anderer Satztechniken, die aber die Grundreihe nicht antasten. So entsteht eine permanente Dissonanz. Losgelöst von der Naturtonreihe, bei der Dissonanzen stets auf Auflösung drängen.
Man könnte argumentieren, dass die in purer Disharmonie angeordneten zwölf Töne letztlich auch der Schöpfung angehören. Aber ist damit alles gesagt? Steckt nicht noch mehr dahinter? Etwa die Versuchung durch die Schlange „Ihr werdet sein wie Gott“? Eine gewisse Rebellion gegen die Schöpfung, gegen die Wirklichkeit, gegen die Wahrheit und Schönheit? Die Anmaßung, eine Art Gegenwelt zu schaffen, die nicht aus Gott, sondern aus dem Menschen ist? Der Versuch, an Gottes Stelle zu treten, ihn abzulösen und nun selber die Losung auszugeben „Lasset uns Menschen schaffen nach unserem Bilde, ein Bild, das uns gleich sei“?
Hanns Eisler, Schüler Arnold Schönbergs, selbst Kompositionslehrer und äußerst vielseitiger und fähiger Komponist, auch von atonalen Werken, hat in seinem Buch „Komposition für den Film“ die atonale Musik in einen Zusammenhang gebracht mit unserem Katastrophenzeitalter und sie zur Begleitung entsprechender Filmszenen empfohlen.
Und Thomas Mann brachte sie im „Doktor Faustus“ mit keinem Geringeren als dem Teufel in Verbindung. Als der Teufel dem Komponisten Adrian Leverkühn erscheint, um ihm zum Erfolg zu verhelfen, umweht ihn Kälte. Und Kälte fordert er von ihm auch ein als Gegengabe.
In der Tat hat die Zwölftontechnik, die er ihm beibringt, trotz pausenloser dissonanter Überhitzung etwas Kaltes, nichts Herzerwärmendes und wohltuend Entspannendes.
Woher bezieht sie also ihre Daseinsberechtigung?
Schönberg hat seine Erfindung der Dodekaphonie wiederholt als „historische Notwendigkeit“ bezeichnet und das war sie auch. Immer wieder hatte sich die Spätromantik der Atonalität angenähert bis sie schließlich konsequent in sie einmündete. Der einmal beschrittene Weg musste zu Ende geführt werden, um die Konsequenzen aufzuzeigen. Nicht wenige Komponisten, selbst der alternde Strawinsky, folgten ihm auf diesem Wege.
Schönberg sah in seiner neuen Technik nichts Geringeres als eine grundlegende Neuschöpfung ohne deren Kenntnis in Zukunft kein Kompositionsschüler mehr zum Hochschulstudium zugelassen werden könne. Er glaubte sogar, dass man seine Tonfolgen dereinst einmal als Gassenhauer pfeifen werde. Und er meinte, dass durch ihn der Vorrang der deutschen Musik auf lange Zeit gesichert bleibe. Auch sah er sich keineswegs als kalten, roboterhaften, inhumanen Konstrukteur.
Schönberg: „Ich bin irgendwie traurig, dass man so viel von Atonalität spricht, von Zwölftonsystemen, von technischen Methoden, wenn von meiner Musik die Rede ist. Alle Musik, alles menschliche Schaffen, hat Skelett, Blutkreislauf und Nervensystem, Ich würde mir wünschen, dass sich meine Musik als ein aufrichtiger und intelligenter Mensch versteht, der zu uns kommt und etwas sagt, das er zutiefst empfindet und für uns alle von Bedeutung ist.“
Hat er sich aber damit nicht überschätzt? Und was hat er uns denn zu sagen?
Theodor W. Adorno sieht in seinem Buch „Philosophie der Neuen Musik“ einen radikalen Autonomisierungsprozess, in dem sich die Musik vom gängigen, kommerziellen Kulturbetrieb abkoppelt, sich allen ästhetischen Konventionen entzieht und so endlich frei wird. Als Kommunist und Mitglied der „Frankfurter Schule“ ist für ihn dieser Prozess eng verbunden und verflochten mit den menschlichen Befreiungsbewegungen von gesellschaftlichen Vorgaben und derzeit herrschenden Verhältnissen.
Adorno gab sein Buch einst im Exil Thomas Mann zu lesen, aber eben der nahm, wie wir gesehen haben, die Dodekaphonie nicht nur in seinem Roman auf, sondern entdeckte in ihr auch etwas Diabolisches.
Weiterentwicklungen und Neuschöpfungen sind nicht per se gut, auch wenn sie konsequent sind.
Das gilt überall. Heute für die KI etwa, für die Medizin, für sonstige Erfindungen und nicht zuletzt für das menschliche Verhalten und auch für die Kunst.
Gustav Mahler ging einst mit Johannes Brahms am Ufer der Traun spazieren. Er wies auf den Fluss und sagte: „Da Herr Doktor, da fließt die letzte Welle.“ Damit wollte er verdeutlichen, daß es kein Halten gibt und die Entwicklung immer weitergeht. Brahms entgegnete: „Ja, aber es ist ein Unterschied, ob diese Welle ins Meer fließt oder in einen Sumpf.“
In einen Sumpf. Oder vielleicht auch ins Nichts, ins Absurde, absolut Verlogene und Inakzeptable.
Einige Beispiele möchte ich dazu bringen:
In einer Fernsehsendung trat der Entertainer Hape Kerkeling mit festlicher Garderobe in einem Konzertsaal auf. Sein künstlerischer Beitrag mit Klavierbegleitung bestand aus dem Satz: „Der Wolf – das Schaf – hurz“. Anschließend wurde das Publkum befragt, was es von der Sache hielte. Man guckte zwar skeptisch, aber keiner wagte sich zunächst mit seiner Meinung hervor. Man hätte sich ja mit seinem Banausentum blamieren können. Und tatsächlich, als eine Dame vorsichtig Bedenken äußerte, bezweifelte Kerkeling ihre Intelligenz. Das Ganze löste sich natürlich in Wohlgefallen auf.
Noch aufschlussreicher war eine Sendung aus der Reihe „Vorsicht, Kamera!“ von Chris Howland. Hier hatte man in Hamburg zu einer Vernissage eingeladen. Drei „junge Wilde“ aus Afrika sollten ihre Bilder ausstellen. Da so etwas aus postkolonial-ideologischen Gründen hoch im Kurs stand, war fast die ganze Hamburger Kunstszene erschienen, auch der Kultursenator.
Der Witz dabei war: Man hatte vorher drei Affen Pinsel und Farbe in die Hand gedrückt, um damit ihre „Gemälde“ anzufertigen. Das taten sie auch und die beschmierten Leinwände wurden dann ausgestellt.
Interessant war nun die Reaktion des kunstverständigen Publikums. Kein Einziger äußerte sich in dem Film kritisch. Vielmehr fielen anerkennende Worte wie „kräftiger Strich“, „klare Farbgebung“, „gute Raumaufteilung“, „eindeutige Aussage“ und dergleichen.
Zwischendurch wurden immer wieder die Affen eingeblendet. Bei den Aussagen der Intellektuellen tippten sie sich an die Stirn, hielten sich den Mund zu, gähnten, schüttelten den Kopf oder machten sonstige abwertende Bewegungen.
Wäre eine solche Burleske, ein solches Bloßstellen von Kunstverständigen früher jemals möglich gewesen?- Nein. Und das zeigt, dass wir tatsächlich in einem Sumpf gelandet sind, wo es keinen Halt und festen Boden mehr gibt. In einer Nacht, wo alle Katzen grau sind. In einer Gegend, wo es keine festen Maßstäbe und Kriterien mehr gibt. Unschuldige Farb- und Formspielereien seien hier aber ausdrücklich ausgenommen.
Heute sind Werke denkbar wie „Schwarzer Punkt auf weißer Fläche“ und, noch schlimmer, kürzlich wurde sogar eine leere Leinwand als „Kunstwerk“ für teures Geld verkauft.
Damit ist man im Nichts angekommen. Dass die Dadaisten auch ein Pissoirbecken als Kunstwerk ausstellten, nimmt da nicht Wunder.
Im musikalischen Bereich haben wir dieselben Entwicklungen zum Nichts hin. Der amerikanische Künstler John Cage führte am 29. August 1952 in der Maverick Concert Hall in Woodstock, New York sein Klavierstück „4´33“ auf. Diese Zahl gibt die Länge des Werkes an. Alle drei Sätze der Komposition waren mit „Tacet“ überschrieben. Es erklang also kein einziger Ton. Das Ende der Sätze zeigte der Pianist David Tudor durch Öffnen und Schließen des Klavierdeckels an. Cage, der über 250 Stücke komponierte, wollte mit dieser „Komposition“ die Aufmerksamkeit auf die Geräusche der Stille lenken. Er galt übrigens keineswegs als abseitiger Spinner, sondern war Hochschullehrer, Kompositionstheoretiker und einer der „einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts“ (Wikipedia). Für die neu entstehende Happeningbewegung, die Fluxusbewegung und neue Improvisationsmusik galt er als wichtiger Anreger.
Natürlich wollten all diese Bewegungen mit ihren Schnurren, Eulenspiegeleien, Neuschöpfungen und Provokationen nicht eine bewusste Aufstandsbewegung gegen Gott starten, sie sagten das jedenfalls nicht. Sie wollten experimentieren, neue Wege erkunden, neue Sichtweisen eröffnen und irgendwie in neue Welten aufbrechen. Aber in welche denn? Und war die alte Welt denn so schlecht, dass man sie verlassen und bekämpfen musste? Galt die bestehende Wirklichkeit, die Schönheit des Menschen, der Natur, der Schöpfung, der die Seele bewegenden, aufrichtenden und tröstenden Klänge denn nichts mehr? Was war mit den überwältigenden Sinfonien großer Komponisten? War die Musik Tschaikowskis wirklich nur „präschnulzoide Cantilene“, wie mal einer sagte? Was war mit dem herzerwärmenden oder lustigen Volkslied, dem Kinderlied, dem aufrüttelnden Marschlied? Konnte man das wirklich überwinden und ersetzen? Übertreffen?
Ich habe übrigens in meinem Leben viele Musikwissenschaftler und Musiker kennengelernt. Darunter war aber keiner, für den rein atonale Musik eine Herzensangelegenheit war oder der sie in Mußestunden zur Erbauung gehört hätte.
Es gab durchaus Künstler, die das Neue und das Alte sinnvoll und nutzbringend zu verbinden wussten. Ich nenne etwa für die bildende Kunst Oskar Kokoschka und für die Musik Kurt Weill, insofern als sie die unsichtbare Grenze zum Destruktiven nicht überschritten. Weills oft polytonale Musik z.B. war äußerst eindrucksvoll. Es gab aber auch das, was in einer menschenfeindlichen Gegenwelt, in einem irrlichternden Sumpf oder eben im Nichts endete.
Schönbergs Erben waren die Schlimmsten. Sie wollten z. T. überhaupt keine Grenzen und Regeln mehr anerkennen. Pierre Boulez unterstellte in einem Aufsatz „Schönberg ist tot“ diesem eine Unfähigkeit „die Klangwelt auch nur zu ahnen, welche die Reihe von sich aus verlangt“ und eine „reaktionäre Haltung, die all den Überlebtheiten Tür und Tor offen ließ, die man als mehr oder minder beschämend empfinden muss“, ja er sprach frech von „schwer entschuldbaren Verkalktheiten“. (Martin Demmler: „Schönbergs Erben sind die Schlimmsten“, Cato Nr.1/2024, S.76ff ) Und es gab noch wildere, radikalere und bösartigere Äußerungen.
Solche hemmungslose Selbstherrlichkeit und Überheblichkeit, Verachtung alles Alten, sind sicher keine moralisch basierte Empfehlung für das Neue. Und, ganz abgesehen von den subjektiven Bestrebungen des Einzelnen, ist das Enden im puren Zerstörerischen, in einer allgemeinen Gesetzlosigkeit, im Nichts eine theologische Kategorie. „Der Tod ist der Sünde Sold“ , heißt es in der Bibel und Karl Barth nennt den Teufel den „Nichtigen“. Die Verheißung von der ganz anderen, neuen, schöneren und besseren neuen Kunst ist durchsetzt mit sehr viel Lüge und Täuschung. In parallelen gesellschaftlichen Entwicklungen ist das Gleiche zu beobachten.
Der Kommunismus wollte auch eine ganz andere, etwas nebulöse, neue und bessere Welt schaffen, einen neuen Menschen kreieren und landete bei den Verhältnissen, wie wir sie einst in der Sowjetunion, jetzt in China, Kambodscha, Kuba und Venezuela vorfanden und vorfinden.
Auch bei uns ist die Lüge, wenn auch in anderer Weise, allgegenwärtig geworden.
Man fühlt sich an das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ erinnert, wo erzählt wird, der Kaiser habe neue Kleider bekommen. Das wird so fest behauptet, dass keiner wagt zu widersprechen. Alle vermeinen, sie nun zu sehen, auch der Kaiser selbst. Dabei ist der Kaiser nackt. Hinter der großen, unwidersprochenen Behauptung ist nichts dahinter. Alle sind einer Täuschung, einer Lüge aufgesessen.
Wie aktuell das alles ist, sieht man am Beispiel der erwähnten Hamburger Kunstverständigen. Man kann es aber auch an den angeblich nicht mehr hinterfragbaren Parolen sehen, die mit dem Gestus der Unfehlbarkeit politisch ausgegeben werden und im Ergebnis Leid und Tod im Gefolge haben, aber eben auch Zerstörung des Bestehenden und Guten. Und der zu späten, bitteren Erkenntnis, dass nichts daran war an den so entschieden vorgetragenen Behauptungen und neuen Sichtweisen. Wo Lüge um sich greift, ist der Teufel nicht weit, der „Vater der Lüge“.
Darum gilt: Wer sich von der Wirklichkeit, von Gottes Schöpfung und Wahrheit fortbewegt, in Richtung einer zerstörerischen Antiwelt, in Richtung auf das geleugnete, aber reale Nichts, den Nichtigen, der kommt unter seine Macht. Und er baut nicht auf, sondern ab. Das gilt im Leben allgemein und somit auch in der Kunst.
J. S. Bach wusste noch um die Verpflichtung, die allem Leben und aller Kunst innewohnt. Soli deo gloria schrieb er unter alle seine Werke, „allein zur Ehre Gottes“. Er wollte, dass seine Musik nur der Ehre Gottes und der „Recreation des Gemüts“ dienen sollte.
Wenn dieses Ziel und der Dienst am Menschen nun immer mehr aus den Augen verloren wird, begibt man sich auf einen Weg, der ins menschliche und künstlerische Desaster führt. Man kann sich nun einmal nicht ungestraft selbstherrlich an die Stelle Gottes setzen und sich von ihm emanzipieren, denn sonst landet man unweigerlich in dem Bereich einer Gegenwelt, in einer Welt der Lüge und bloßen Zerstörung oder, milder ausgedrückt, im bloßen Nonsens, wo aber – alles andere als spaßig, weiterführend und unschuldig – der „Nichtige“ das Wort führt. Letztlich hat Dostojewski recht mit seinem Wort: Es gibt nur Christus oder das Nichts.
Mein Ziel war es, einige Überlegungen anzustellen, mit deren Hilfe man, so hoffe ich, nun selber und nüchterner bestimmte Kunstwerke besser beurteilen kann.