Überlegungen zur Volkskirche im Anschluss an Martin Luther

Prof. Dr. Reiner Preul (Kiel)

 

In einem 1990 im Hessischen Rundfunk gehaltenen Vortrag sagte der bekannte Systematiker Eilert Herms: „Nichts verrät größere Unkenntnis von Wesen und Auftrag der Kirche, als wenn schwindende Mitgliederzahlen zum Anlass von Gedanken über das ‚Ende der Volkskirche‘ werden.“1 Man sieht: Erstens, Probleme mit der Volkskirche hatten etliche schon vor mehr als drei Jahrzehnten. Zweitens, diese beruhten auf dem gleichen irrtümlichen, wenn auch für viele naheliegenden Verständnis des Ausdrucks „Volks-kirche“, wonach das ganze Volk oder wenigstens die Mehrheit der Bevölkerung in der Kirche sein müsste. Und drittens, es gab auch damals gescheite Leute, die das richtig zu beurteilen wussten: keine Ahnung von dem, was Kirche ist und wofür sie da ist. Ins Positive gewendet heißt das dann: Wenn die Kirche sich richtig versteht – theologisch richtig –, dann muss sie sich, was ihre konkrete Erscheinung betrifft, als Volkskirche verstehen und entsprechend gestalten. Mit dieser These beschäftigen wir uns im Folgenden.

 

Wir gehen so vor, dass wir uns zunächst auf dem Felde der Vorstellungen von dem, was „Volkskirche“ heißen soll, umsehen und uns daraus eine eigene Vorstellung bilden, die uns als sinnvoll und konsensfähig erscheint. Wir überschreiben dieses Kapitel mit „Volkskirche – ein Konzept“. Danach geht es um die theologische Begründung dieses Konzepts aus dem Wesen und aus der Aufgabe der Kirche in der Welt. Abschließend ist zu fragen, was wir tun sollen bzw. welche Elemente von Volkskirche wir in der gegenwärtigen kritischen Situation festhalten und stärken müssen. Auf Einsichten der Reformation, vor allem Luthers, werde ich besonders im zweiten Teil zurückgreifen.

 

Erster Teil:

Volkskirche ein Konzept

Bevor „Volkskirche“ ein Begriff ist, mit dem Kirche und kirchliches Leben in einer bestimmten historischen Ausprägung beschrieben wird, ist der Terminus vielmehr ein Konzept, wie Kirche sich selbst gestalten sollte, und somit auch ein kritischer Maßstab, mit dem das historische Erscheinungsbild von Kirche beurteilt wird. Das gilt für jedes so oder so beschaffene Verständnis von Volkskirche. Auch bei dem schon eingangs zurückgewiesenem quantitativen Verständnis von Volkskirche ist das der Fall: Verliert sie die Mehrheit der Menschen, dann sei es aus mit ihr.

Freilich muss hier, wenn man genauer hinsieht, gefragt werden, ob dieses quantitative Verständnis, das ja weit verbreitet ist, überhaupt ein Konzept genannt werden kann. Wenn ja, dann nur in einem allerminimalsten Sinn. Denn es besagt als solches nur: Versucht, möglichst viele zu sein, versucht euren Bestand zu halten, indem ihr irgendetwas macht. Aber was, das bleibt völlig offen, Es ergibt sich nicht aus dem Begriff selbst. Die quantitative Vorstellung von Volkskirche als Mehrheitskirche enthält keine bestimmten Handlungs- und Gestaltungsaufgaben. Das Wort „Volk“ im quantitativen Verständnis von Volkskirche hat keine orientierende Funktion, denn es steht ja nur für Quantitäten wie „alle“, „viele“ oder „Mehrheit“.

 

Trotz ihrer Funktionslosigkeit ist das quantitative Verständnis von Volkskirche offenbar nicht auszutreiben, es hält sich ungeachtet aller Kritik, die es dagegen gegeben hat (u.a. auch von mir2), in den Köpfen der meisten Zeitgenossen, wie auch in den Köpfen derer, die es besser wissen müssten. Jüngster Beleg: „Wie hältst du‘s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft. Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung“3. Dort wird festgestellt: „Auch jenseits von Volkskirchlichkeit, aus einer minderheitlichen Position heraus, kann kirchliches Engagement einen Unterschied machen und bedeutsam sein...“4 Und als offenbar nicht mehr los zu werdende Vorstellung hat das quantitative Verständnis von Volkskirche nun auch eine Reihe von Folgen, und zwar unerfreulichen.

 

Wir hatten ja in gar nicht so ferner Vergangenheit tatsächlich eine zwar nicht die ganze Bevölkerung aber eine Mehrheit umfassende Kirche, die man „Volkskirche“ nannte, wenn auch nicht aus diesem Grund, und die ist nun dahin. Und die Kirche schrumpft weiter. Da schrillen natürlich die Alarmglocken. Es entsteht ein aufgeregter Planungsaktionismus mit allem, was dazu gehört: immer neue Positionspapiere, Zielvereinbarungen („Leuchtfeuer“), Skizzierung von Reformprozessen in Bezug auf Planstellen, Strukturen und Fusionen, Versuche mit neuen Formaten für einzelne kirchliche Arbeitsfelder etc. Und das alles als Top-down-Verfahren, was natürlich bei der Basis, besonders der Pfarrerschaft, nicht gut ankommt. Nicht alles war grundfalsch, vieles aber doch wie vor allem die vorgesehene und dann durchgeführte Reduzierung der Gemeindepfarrstellen zugunsten von Funktionspfarrstellen und die Stärkung von Profilgemeinden und netzwerkorientierten Gemeinden auf Kosten der Ortsgemeinden im sogenannten Impulspapier der EKD „Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ (Hannover 2006).5 Alles musste auf den Prüfstand, vorab besonders die Pfarrstellen. Und allenthalben wurden „Reformen“ verlangt. So heißt es auch jetzt in „Wie hältst du's mit der Kirche?“: „Sehr große Mehrheiten in der Kirchenmitgliedschaft und in der Gesamtbevölkerung erwarten und fordern radikale Reformen von den Kirchen:“6 Das bezieht sich auf beide Konfessionen gleichermaßen. Leider erfährt man nicht, welche das sein sollen auf evangelischer Seite. Bei den Katholiken liegt es ja auf der Hand: Abschaffung des Zölibats, Zulassung von Frauen zum Priesteramt und Stärkung aller synodalen Elemente auf Kosten der bischöflichen Macht. Aber was erwarten die „großen Mehrheiten“ in der Kirche und außerhalb von uns evangelischen Christen? Und was heißt hier „radikale“ Reform? Zu fragen wäre doch: Was ist eigentlich in der Kirche und insbesondere in einer aus der Reformation hervorgegangenen Kirche reformierbar, und was kann nicht reformiert werden, weil es aus unserer Sicht schon optimal ist?

 

Eine weitere Folge des quantitativen Verständnisses bzw. Missverständnisses von Volkskirche besteht darin, dass der Erhalt des Mitgliedschaftsbestandes ein zu großes Gewicht erhält, wenn nicht gar als das Hauptmotiv allen kirchlichen Handelns betrachtet wird. Das gilt besonders für die Außenperspektive auf die Kirche. Unser Image ist betroffen. Was immer unsere Kirche tut und besonders was ihr an Neuem einfällt, wird sogleich als eine Werbeveranstaltung verstanden. Da berichtet etwa ein Journalist von irgendetwas Ungewöhnlichem in einer Gemeinde, das großen Anklang findet, und dann kommt zum Schluss des Artikels noch etwas kritischer Essig: ob das nun den Mitgliederschwund stoppen könne, das sei doch sehr die Frage. Dass da vielleicht Christenmenschen einfach etwas tun, weil es ihnen Freude macht, weil es sie selbst erbaut, sie sicherer und freier macht in ihrem Glauben, darauf kommt man nicht.

Damit genug zur ersten Verstehensposition von Volkskirche. Ihr Fehler besteht darin, dass sie nur ein Merkmal jener „Volkskirche“ genannten Gestalt von Kirche, die wir lange Zeit hatten, zum entscheidenden Merkmal macht und darüber diejenigen positiven Ausprägungen jener Kirchengestalt aus dem Auge verliert, die auf so etwas wie Mehrheit gar nicht angewiesen sind. Diese Vorzüge kommen in weiteren Verstehenspositionen zum Terminus Volkskirche zum Ausdruck. Ich hebe besonders zwei hervor.

 

So sagt man erstens, Volkskirche sei bzw. soll sich verstehen und gestalten als Kirche für das Volk und zwar das ganze Volk. Und zweitens soll Volkskirche eine solche Kirche sein, in der das Kirchenvolk sich aktiv an der Gestaltung und am Vollzug von Kirche beteiligt, ihren Kurs in der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft und ihre Einstellung auf und Anpassung an neue Gegebenheiten mitbestimmt. Volkskirche soll also auch Kirche durch das Volk sein. Beides können wir uns zu eigen machen.

 

1. „Kirche für das Volk, für das ganze Volk“. In dieser Formel steckt die Antithese zu dem quantitativen Verständnis: Volkskirche heißt nicht, dass möglichst alle in der Kirche sein müssten, sonst könne von Volkskirche nicht die Rede sein, sondern es heißt, dass die Kirche sich so präsentieren muss, dass alle in ihr sein könnten, ungeachtet aller persönlichen Unterschiede, nach denen man in außerkirchlichen Zusammenhängen oft Abstand voneinander hält. Also alle, sofern sie nur mit der Botschaft der Kirche irgendetwas anfangen können, ihr also nicht ausdrücklich abschwören. Die Einstellung zur Sache der Kirche, dem Evangelium, ist das einzige Kriterium der Zugehörigkeit bzw. des Zugehörigkeitsgefühls sowie der von der Gemeinschaft der Kirchenmitglieder gewährten Akzeptanz. Faktoren wie Bildungsstand, Milieu, soziale Situation, Geschlecht, sexuelle Prägung, Alter, ethnische Zugehörigkeit, ästhetische Vorlieben, politische Einstellung etc. dürfen dagegen keinen Einfluss auf Zugehörigkeitsgefühl und Willkommensein haben. Und wo sich so etwas dennoch bemerkbar macht, da zeigt es einen Verstoß gegen das Prinzip und den Geist der Volkskirche an.

 

Es zeigt sich nun: Der Gegensatz zur Volkskirche ist nicht eine Minderheitenkirche, sondern eine einseitig festgelegte bzw. festgefahrene Kirche, die nicht offen ist für alle Bevölkerungsgruppen, sondern sich mit einzelnen Gruppen besonders verbindet. Man nennt das neuerdings auch „Klientelkirche“. So etwas kann bewusst vertreten werden – als Beispiel nenne ich jene südafrikanischen Kirchen, die es mit der Apartheid hielten –, oder es kann mehr oder weniger unbemerkt sich einstellen. Klientelkirche aber widerspricht dem Wesen und Auftrag der Kirche, die sich an alle Menschen gesandt weiß und dafür auch eine manifeste biblische Grundlage hat: „große Freude, die allem Volk widerfahren wird“ (Lk 2,10), „Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ (1 Tim 2,4)

Die für alle offene Kirche lässt damit auch das Individuelle und  Verschiedene, manchmal sogar Gegensätzliche in sich, also in jeder Gemeinde nebeneinander zur Geltung kommen und ist damit auch frei für Experimente, in denen man sich dem je Besonderen zuwendet, etwa durch spezielle Veranstaltungen, sofern entsprechende Möglichkeiten,  Mittel und Talente zur Verfügung stehen. Hier droht nun freilich zugleich eine große Gefahr für die Volkskirche, nämlich, dass sie sich unter der Hand in ihr Gegenteil verwandelt, indem sie interessenorientiert überall kleine klientelkirchliche Sozialformen entstehen lässt und letztlich in lauter einzelne Zirkel ohne inneren Zusammenhang zerfällt. Dieser Gefahr ist die Volkskirche aber insoweit gewachsen, als sie daran festhält, dass die Mitte und das Fundament allen Gemeindelebens der Gottesdienst, und zwar der reguläre Sonntagsgottesdienst für alle ist, mit dem die Kirche ihrem Auftrag treu bleibt („Solches tut zu meinem Gedächtnis“), durch den sie am eindeutigsten in der Welt als Kirche in Erscheinung tritt und ohne den es alle anderen Formen kirchlichen Handelns gar nicht gäbe. Der Gottesdienst für alle zugleich mit der von Jesus eingesetzten Mahlfeier als Zentrum ist in historischer wie in systematisch-theologischer Betrachtung der Ursprung und dauerhafte Kern der Kirche. So tritt also in unserem Konzept von Volkskirche den auf der prinzipiellen Offenheit beruhenden zentrifugalen Kräften die zentripetale Anziehungskraft des Gottesdienstes für alle zusammen entgegen und stabilisiert so das empirische Erscheinungsbild von Kirche und Gemeinde. Ob der Gottesdienst diese stabilisierende Funktion tatsächlich noch überall hat, ist damit nicht gesagt; aber wir befassen uns hier ja mit dem dem Wesen und Auftrag der Kirche entsprechenden und daher zu vertretenden Konzept von Volkskirche.

 

Aufgrund ihrer Offenheit ist die Volkskirche ein Spiegel der Gesellschaft. Schon auf der Ebene der Ortsgemeinde, erst recht, wenn man größere Einheiten wie den Kirchenkreis oder die Landeskirche in den Blick fasst, finden sich alle Differenzen und Diversitäten, die in der Gesamtgesellschaft anzutreffen sind, auch im Raum der Kirche wieder. Und das ist durchaus wünschenswert, obwohl es natürlich auch Probleme schaffen kann und immer wieder geschaffen hat. Letzteres galt besonders für die Zeit des Nationalsozialismus. Bei heutigen Diskussionen über Kirche und Nationalsozialismus hat man manchmal den Eindruck, als sei von zwei getrennten Bereichen die Rede: hier die Kirche und dort die ganzen Nazis. Aber da damals 95 % der Deutschen einer der beiden großen Kirchen angehörten, waren praktisch sämtliche Nazis getaufte Kirchenmitglieder; die Nazis rekrutierten sich ja nicht aus den restlichen 5%. Die Scheidelinie verlief also mitten durch das Kirchenvolk, und die Nationalsozialisten versuchten von innen her das Christentum zu arisieren und die Volkskirche völkisch zu machen. Beim Verhältnis zum heutigen Rechtsextremismus verlaufen die Linien etwas anders; aber ich kann jetzt auf dieses Thema nicht eingehen.

 

Das Beisammensein und konkrete Sichbegegnen des gesellschaftlich Differenten, insbesondere in der kirchlichen Hauptveranstaltung, dem Gottesdienst, schafft aber nicht nur Probleme, sondern trägt wesentlich dazu bei, dass die Kirche sich zu einer einzigartigen und gesamtgesellschaftlich unverzichtbaren Bildungsinstitution gestalten kann. Die direkte Anwesenheit des Unterschiedlichen nötigt zu wechselseitiger Toleranz oder sogar Wertschätzung und fördert die Entstehung eines Gemeinsinns, wie er auch Voraussetzung des Gelingens von Demokratie und innerem Frieden ist. Und das alles geschieht im Lichte und auf der Grundlage eines alle Differenzen wahrnehmenden und sie zugleich relativierenden allgemeinen Verständnisses des Menschen und seiner sowohl individuellen als auch gemeinschaftlichen Existenz, eben des christlichen Menschenverständnisses als Implikat des biblischen Wirklichkeitsverständnisses insgesamt, wie es in Predigt, Liturgie und Sakrament zum Ausdruck gebracht wird. Für die Öffentlichkeit ist die Kirche mit ihrem Gottesdienst weithin nur eine Art Verein für Leute mit spirituellen Bedürfnissen, die der normale, „aufgeklärte“ Zeitgenosse nicht mehr hat, also für das Funktionieren von Gesellschaft entbehrlich. Für uns Christen ist er, der Gottesdienst, die wichtigste Bildungsinstitution  überhaupt und damit auch für die Gesamtgesellschaft höchst bedeutsam, wie ich als Theologe sagen muss, wohl wissend, dass das bei den tonangebenden Intellektuellen unserer Zeit und selbst in weiten Teilen der theologischen Zunft auf pures Unverständnis stößt.

 

Zum Abschluss dieses ganzen Abschnitts über „Kirche für das Volk“ und bevor ich zu „Kirche durch das Volk“ komme noch zwei Bemerkungen:

Zum einen möchte ich darauf hinweisen, dass ich mich mit meinem Kernsatz „Volkskirche heißt nicht, dass alle in der Kirche sind, sondern dass die Kirche sich so gestaltet und öffentlich präsentiert, dass alle unbeschadet ihrer Verschiedenheit in ihr sein könnten, sofern sie die christliche Rede von Gott nicht von vornherein für baren Unsinn halten“, dass ich mich damit nicht allein weiß. So schrieb, um nur einen zu zitieren, Friedrich Niebergall, führender praktischer Theologe der sogenannten liberalen Theologie: „Darum kann vorläufig der Sinn des Wortes Volkskirche nur der sein: nicht die Kirche, die das ganze Volk umfasst, sondern eine Kirche, die sich auch der Aufgaben des Volkslebens annimmt.“7 Nicht die Menge der Mitglieder, sondern die Ausrichtung helfender Zuwendung zu allen und ihren Existenzproblemen ist das Entscheidende. – Ähnliches gilt übrigens, das ist die zweite Bemerkung, für den Begriff „Volkspartei“ im politischen Bereich. Volksparteien fühlen sich nicht nur einem einzelnen Ziel verpflichtet, sondern dem Wohl des ganzen Volkes in allen wesentlichen Belangen, und sie entwickeln ein entsprechendes Programm. Konrad Stock hat auf diese Parallele hingewiesen und dabei verdeutlicht, dass auch dem Konzept der Volkskirche eine sozialethische und auf das Gedeihen des gesellschaftlichen Ganzen gerichtete Perspektive eignet, die – im Unterschied zu einigen Parteien – vom Ethos des christlichen Glaubens aus wahrgenommen, gepflegt und situationsbezogen aktualisiert wird.8 Freilich ist bei diesem Vergleich Volkskirche / Volkspartei dann aber doch ein Unterschied festzustellen. Politische Parteien müssen sich hierzulande im Zusammenhang mit dem Herrschaftssystem der Demokratie definieren, und zu diesem System gehört unbedingt auch eine Opposition bzw. mindestens eine Oppositionspartei. Deshalb kann eine Volkspartei gar nicht wünschen, dass alle sie wählen oder gar ihr angehören. Wären alle Bayern in der CSU, dann wäre das wohl das Ende der Demokratie in Bayern. Die Kirche aber kann natürlich gar nicht genug Mitglieder haben. Das ist vielleicht das Quäntchen Wahrheit an dem quantitativen Missverständnis von Volkskirche.

 

2. Volkskirche als Kirche durch das Volk. Wir können das kürzer abmachen. Hier geht es darum, dass Kirche auf allen Ebenen als soziale Gestalt des Glaubens Gestaltungs- und Aktionsimpulse nicht allein von oben her – also von leitenden Gremien oder Personen – erhält, sondern dass alle Mitglieder initiativ werden und kirchliches Leben mitgestalten können. Dem entspricht die Mitwirkungsmöglichkeit, die insbesondere den sogenannten Laien in Kirchenvorständen und Synoden durch das Kirchenrecht zugestanden wird. Dass Frauen heute alle Ämter in der evangelischen Kirche bekleiden können, gehört auch hierher, ist auch eine Errungenschaft der Volkskirche. Im Übrigen aber geht es um die vielfältigen Einflüsse, die, auch unabhängig von Ämtern oder Ehrenämtern, vom Kirchenvolk ausgegangen sind, auch immer noch ausgehen und z.B. als Trends sich bemerkbar machen. Etwas setzt sich durch, anderes gerät in Vergessenheit. Es geht auch um Stilfragen, Geschmacksfragen, allerlei Volkstümliches, neues Liedgut, regionales Brauchtum, Verknüpfung mit dem Vereinswesen und vieles mehr, das als kirchliche und allgemeine Kultur anzutreffen ist. Hier gibt es einerseits die Macht der Gewohnheit, andererseits auch immer wieder bewusste Tabubrüche und Irritationen. Im Moment dürfte das Gendern ein großer Irritationsfaktor sein. Das, was man „kirchliche Sitte“ nennt, ist ein vom Kirchenvolk getragenes Strukturmoment. Entscheidend ist, dass das alles nicht von oben her, sei es die Kirchenleitung, sei es die Synode, oder gar der Staat, verordnet und geregelt wird, sondern durch die innerkirchliche Öffentlichkeit entschieden wird.

Vieles am Zustand der Volkskirche ist, da es historisch gewachsen ist oder sich manchmal auch Zufällen verdankt, nicht theologisch zu erklären oder gar als zwingend notwendig zu erweisen. Wohl aber bedarf es, wenn es daraufhin beurteilt werden soll, ob es weiterhin gepflegt oder durch ganz Neues (man denke etwa an alles, was unter dem Titel Spiritualität gehandelt wird) ersetzt werden sollte, theologischer Kriterien. Hier bieten sich besonders die von der Reformation benannten Exklusivformeln an: sola gratia, sola fides, solus Christus, sola scriptura. Was dem nicht widerspricht, ist akzeptabel, wenn es sonst respektable Gründe dafür gibt; was den Geist stärkt, der durch die reformatorischen Formeln ausgedrückt wird, ist zu bevorzugen; und was dem widerspricht, ist abzuweisen.

 

Zweiter Teil:

Theologische Begründung des  Konzepts

Wenn auch die Realisierung des entwickelten Konzepts der Volkskirche sich theologisch nicht in allen Einzelheiten begründen lässt, so ist doch das Konzept selber als Handlungsorientierung und Maßstab theologisch begründungsbedürftig und auch begründungsfähig. Das vom Vorstand des rheinischen Pfarrvereins herausgebrachte Buch „Salz der Erde, Licht der Welt. Die bleibende Bedeutung der Volkskirche“9 argumentiert im Wesentlichen mit biblischen Grundlagen und Bezugstexten. Ich möchte dem noch die Stimme der Reformatoren hinzufügen.

 Dazu drei Punkte:

1. Schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts hat der Kirchenhistoriker Karl Holl in seiner Studie „Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff“ (1915)10, die These vertreten, dass „Volkskirche“ die der Reformation gemäße empirische Gestalt von Kirche ist – natürlich ohne dass dieses Wort damals schon im Gebrauch gewesen wäre. Indem Luther sich standhaft weigerte, den Kreis der wahrhaft Frommen, der „vere credentes“  nach CA 8, äußerlich erkennbar machen zu wollen, um aus ihnen eine Kirche derer, „so mit Ernst Christen wollen seyn“ zu formen und einen entsprechenden Gottesdienst einzurichten, hat er für den Gottesdienst für alle, auch für das bloß „gaffende Volk“, plädiert und damit nach Holl die Weichen grundsätzlich zur Volkskirche gestellt. Das ist auch ganz schlüssig. Denn eine Kirche nur der wahrhaft Frommen und Überzeugten wäre ja auch eine Art Klientelkirche, und „Volkskirche“ ist, wie wir gesehen haben, gerade die prinzipielle Verneinung jeder Klientelkirche. Nach CA 8 ist die Kirche „in hac vita“ immer zusammengesetzt aus „vere credentes“ und „admixti hypocritae et mali“ (beigemischten Scheinheiligen und Bösen), wobei die Scheidelinie zwischen beiden Gruppen nur für Gott klar erkennbar ist, ganz abgesehen davon, dass sie sich auch beständig verschiebt, weil Menschen sich z.B. bekehren und wiederum andere vom Glauben ablassen. Dieses Bekenntnis Luthers zur Kirche als ein corpus permixtum fördert nicht nur Toleranz, wie ich vorhin schon sagte, dass man Toleranz in der Volkskirche lernen kann, weil sie die Verschiedenheiten in körperlicher Begegnung zusammenführt. Es verlangt auch nach einer Haltung, die den Anderen nach dem „Maßstab der Liebe“ betrachtet und behandelt, indem sie bis zum Beweis des Gegenteils „alles Beste von jedem annimmt, jeden Getauften heilig nennt, und es besteht keine Gefahr, wenn sie irrt.“11 (WA18, 625) Ich denke, es ist richtig, dass man auch diese wohltuende innerlich-psychische Seite von Volkskirche und nicht nur deren äußere Begebenheiten wahrnimmt. Eine Versammlung nur der wahrhaft Frommen, die auch erklärt, das zu sein, nährt dagegen sehr schnell inquisitorische Neigungen: ob der oder die auch wirklich in diesen Kreis gehört? In Luthers Kirche gibt es einen großen Vertrauensvorschuss, der mit den guten Seiten der Anderen rechnet und sie daher auch leichter entdeckt. Und zugleich vertraut man mit Luther auch auf die Kraft des Heiligen Geistes, der die Worte des Evangeliums ihren Weg in menschliche Herzen finden lässt, selbst dann, wenn sie aus dem Munde eines Unwürdigen kommen sollten, weshalb die Lutheraner ja auch in CA 8 die Donatisten verurteilen.

 

2. Ich möchte noch auf eine andere Weise auf Luther zurückgreifen. Ich beziehe mich auf die 1539 verfasste Schrift des nun schon in die Jahre gekommenen Reformators: „Von den Konziliis und Kirchen“. Im letzten Teil dieser Schrift, die sich zuvor mit den Konzilien, speziell dem sogenannten Apostelkonzil und den ersten vier ökumenischen Konzilien, die noch nicht unter der Leitung des römischen Bischofs standen, befasst hatte, zum Abschluss also will Luther erklären, was denn nun eigentlich die Kirche sei, die im apostolischen Glaubensbekenntnis „die heilige christliche Kirche“ genannt wird. Das Wort „Kirche“, wie es hier auftritt, sei nämlich „blind“ und „undeutlich“, es sage zunächst gar nichts aus, sondern lässt uns nachfragen, welcher reale Sachverhalt denn damit bezeichnet sein soll. Der „gemeine Mann“, so Luther, denkt wohl unmittelbar an das „Haus aus Stein“. Die römische Hierarchie (Papst und Bischöfe, sowie „Pfaffen und Mönche“) identifiziert sich einfach selbst mit der gemeinten Sache: Sie verkörpere die Kirche, und daraus erklärt sich die ganze Fehlentwicklung, die Luther in den vorhergehenden Teilen der Schrift bloßgestellt hat. Luther hält dagegen: „... so ist nun heilige christliche Kirche so viel wie ein Volk, das aus Christen besteht und heilig ist, oder wie man auch zu sagen pflegt, die heilige Christenheit, ebenso: die ganze Christenheit. Im Alten Testament heißt es Volk Gottes.“12 Diese Passage, insbesondere die Hinzufügung des Synonyms „ganze Christenheit“ erinnert uns natürlich an Luthers Auslegung des dritten Artikels im Kleinen Katechismus, wo Luther das Wort „Kirche“ nicht aufnimmt (jedenfalls nicht im maßgeblichen deutschen Text), sondern durch „Christenheit“ bzw. „ganze Christenheit“ ersetzt. Ähnlich im Großen Katechismus.  Hier nun, zehn Jahre später, haben wir plötzlich den Begriff „Volk“ oder „heiliges christliches Volk“ als hauptsächlichen Auslegungsbegriff für „Kirche“. Denn das Wort „christliches heiliges Volk“ hätte klar und mit großem Nachdruck das Verständnis und das Urteil darüber mit sich gebracht, was Kirche eigentlich ist und was nicht.13

Nun kann auch die Semantik des Wortes „Volk“ im Kompositum Volkskirche zum Zuge kommen. Volk ist ja nicht einfach die Summe vieler Einzelner, sondern deren Verbindung durch Beziehungen vielfältiger Art, Kommunikation und Kooperation zu einem kollektiven Subjekt des Denkens und Empfindens, des Erlebens und Handelns. So erschafft sich Gott in der Welt durch die Wirksamkeit seines Geistes ein Volk aus Christenmenschen, die den rechten Glauben haben, ein Gemeinschaftsleben organisieren und nach Gottes Willen leben, weil der Geist Gottes sie befähigt, die Gebote des Dekalogs, und zwar alle, zu erfüllen, die aber auch leiden in der Welt, weil sie den Hass anderer Menschen auf sich ziehen und nicht mit Gewalt darauf reagieren. Also: Gott schafft ein Volk, das mit ihm kooperiert und dessen Glieder miteinander interagieren, und nicht ein Amt wie das mit sakramentaler Weihe (potestas ordinis) ausgestattete Bischofsamt. Es war wohl die scharfe Abgrenzung gegen das römische Kirchenverständnis, das Luther hier auf den Begriff des Volkes bringt.

 

Um das christliche Volk zu charakterisieren, benennt Luther sieben Wesensmerkmale oder Erkennungszeichen dieses Volkes, nämlich: das Wort, die Taufe, das Sakrament des Altars, den öffentlichen und privaten Gebrauch der Schlüssel, das Vorhandensein von Ämtern, in die das christliche Volk immer neue Diener der Kirche beruft, das Gebet (gemeint sind das Vaterunser, Psalmen, Lieder, Katechismen) schließlich  das Heilszeichen des heiligen Kreuzes.14 Diese Aufzählung beginnt mit dem, was schon die Con-fessio Augustana in Art. 7 an Kennzeichen der wahren Kirche (notae ecclesiae verae) herausstellte: dem Wort (der Verkündigung des Evangeliums) und den Sakramenten. Das ist und bleibt zentral, hat aber auch Folgen (so die Praxis der Vergebung, das Gebet bzw. Gotteslob und die Leidensbereitschaft im Kontext eines Gott wohlgefälligen und dienenden Lebens), und es verlangt nach Einrichtungen, welche die Religionsausübung dauerhaft ermöglichen: so das Predigtamt und dem unter- oder zugeordnete Ämter. Zu den einzelnen Merkmalen will ich hier nichts sagen. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist die Ausweitung der Kennzeichen als solche, in der sich das Bestreben ausdrückt, einer fortschreitenden Differenzierung in der Wahrnehmung der konkreten empirischen Kirche Rechnung zu tragen.

Die aufgezählten sieben Kennzeichen beziehen sich allesamt auf die christliche praxis pietatis im engeren Sinne, also auf die signifikante und explizite Religionsausübung, oder wie Luther auch sagt, auf die erste Tafel im Dekalog. Es gibt aber auch noch den sogenannten Gottesdienst im Alltag, die praxis pietatis im weiteren Sinne, und das muss auch erfasst werden, wenn die Kirche als ganze, wenn das ganze Leben des christlichen Volkes in den Blick treten soll. Deswegen stellt Luther fest: „Über diese sieben Hauptstücke hinaus gibt es noch weitere äußerliche Anzeichen, an denen man die heilige christliche Kirche erkennt. Denn der Heilige Geist heiligt uns auch nach der zweiten Tafel des Mose.“15 Und dann zählt er entsprechende gute Werke auch auf. „Allerdings“, schränkt Luther ein, „können solche Anzeichen nicht für so gewiss gelten wie die vorherigen, weil auch viele Heiden sich in solchen Werken geübt haben und manchmal heiliger scheinen als die Christen.“16 Dennoch waren sie zu nennen, denn sie sind im Leben eines Christen eine notwendige Folge bzw. „Frucht“ des Glaubens. Ich erinnere an ein sehr viel früheres Wort Luthers, in welchem der die christliche Existenz insgesamt bestimmende Zusammenhang am knappsten formuliert wird: „Das Wort Gottes ist von allem das Erste, dem folgt der Glaube, dem Glauben folgt die Liebe, und die Liebe alsdann tut jedes gute Werk.“ (“Verbum dei omnium primum est, quod sequitur fides, fidem charitas, charitas deinde facit omne bonum opus.”17)

 

Fragt man, was Luther durch seine Charakterisierung des christlichen Volkes, welches den Willen Gottes gemäß beiden Tafeln des Dekalogs tut, tatsächlich in den Blick nimmt, so könnte man dafür einen Terminus aus Schleiermachers Glaubenslehre in Anspruch nehmen: nämlich das neue, von Gott gewirkte „Gesamtleben“, in welchem jeder sowohl empfängt als auch entsprechend tätig wird und das dem alten Gesamtleben der Sünde entgegenwirkt.18 Luthers christliches Volk ist wie das Schleiermachersche Gesamtleben mit dem ganzen gesellschaftlichen Leben, auch wo es dazu in Gegensatz gerät, in direkter Berührung. Und was passt nun wiederum besser zum Leben und Wirken des heiligen christlichen Volkes als die Volkskirche qua Kirche für das Volk und durch das Volk? Freilich könnte man einwenden, dass das heilige christliche Volk, wie Luther es beschreibt, die eigentliche Kirche, die Gemeinde der Heiligen, der vere credentes ist, während die Volkskirche als empirische, real existierende Kirche in der Gesellschaft ein corpus permixtum ist. Mit einer solchen Gemengelage ist immer zu rechnen; so behauptet Luther z.B. auch, dass auf dem von ihm sehr geschätzten ersten ökumenischen Konzil, dem in Nicaea, sich unter den Bischöfen auch einige innerlich Abtrünnige befunden haben „wie Mäusemist unter dem Pfeffer“19. Aber wir dürfen doch annehmen, dass die Gemeinschaft der wahrhaft Glaubenden sich zum größten Teil innerhalb der Volkskirche vorfindet und in dieser und durch diese wirksam ist. Weil wir wissen, dass das von Gott berufene Volk eine Realität und wirksame Kraft in der Volkskirche ist, gleichsam deren bleibende Substanz, deshalb gibt es auch keinen theologisch plausiblen Grund, aus der Kirche auszutreten, wenn man sich über bestimmte Vorfälle in der Kirche empört.

3. Ich weise noch auf einen dritten Zugang von Luthers Lehre zur Volkskirche hin. Das allgemeine Priestertum aller Getauften bzw. Gläubigen wird oft und mit Recht zur Begründung der Volkskirche, insbesondere qua Kirche durch das Volk, herangezogen. Die gleichsam distanzierteste Form der Wahrnehmung des allgemeinen Priestertums durch die Laien – auch diejenigen, die den Gottesdienst nur selten besuchen – besteht in der Kritik der sogenannten Amtskirche bzw. ihrer Repräsentanten, sofern diese Kritik nicht pure Ablehnung bedeutet, sondern noch einen gewissen Geist der Solidarität mit der Institution Kirche erkennen lässt. Das allgemeine Priestertum ist das kritisch-solidarische Gegenüber zum ordinierten Amt, und das ist ein ganz wesentliches Element im kirchlichen Leben. Es kommt ferner in allen Formen kirchlicher Laienaktivität zum Ausdruck: in regulären Ämtern, in Ehrenämtern und in spontanen Aktionen im gemeindlichen und übergemeindlichen Rahmen. Entscheidend ist dabei neben der Pflicht, den Glauben zu bezeugen bzw. als deren Implikat, die geistliche Urteilsfähigkeit und Urteilspflicht jedes Christenmenschen. In den Schriften „Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursache aus der Schrift“ und „De instituendis ministris ecclesiae“ (beides 1523) wird die Lehre vom allgemeinen Priestertum geradezu auf diesen Aspekt der Urteilsfähigkeit (die eine mündige Gemeinde auszeichnet) zugespitzt. Deren Förderung ist dann zugleich eine zentrale kirchliche Bildungsaufgabe, die insbesondere durch die Predigt, den Katechismus und den kirchlichen sowie den im Auftrag der Kirche erteilten schulischen Unterricht wahrgenommen wird. Das allgemeine Priestertum ist nicht umso mehr verwirklicht, je öfter Laien Aufgaben übernehmen, die normalerweise den Ordinierten obliegen; so wird es ja manchmal verstanden. Ganz allgemein geht es um eine dem christlichen Volk und damit jedem Christen auferlegte Zeugnispflicht, der in vielfältiger Form entsprochen werden kann und die in Notfällen auch einmal die Übernahme der pfarramtlichen Tätigkeiten der Wortverkündigung und der Sakramentsspendung erforderlich machen kann. So haben bekanntlich während des Zweiten Weltkriegs die Pfarrfrauen nicht selten das Amt ihres andernorts unabkömmlichen Ehemannes übernommen. Nicht passieren darf jedoch, dass jemand eigenmächtig das Predigtamt an sich reißt, was zu Spaltungen in der Kirche führen würde, ganz abgesehen von der Frage der Kompetenz des Betreffenden. Daher bedarf es hier eines geregelten Verfahrens („rite vocatus“, CA 14), in welchem eine geeignete Person im Auftrag der Gemeinde bzw. des ganzen christlichen Volkes berufen wird.

Wir stehen somit fest in der Tradition Luthers und bleiben im Anschluss an ihn, wenn wir an der Volkskirche, so wie wir sie als kybernetisches Konzept umrissen haben, festhalten. Denn Luther hat sich geweigert, eine Klientelkirche für  mustergültige Christen zu gründen; er verschafft der Volkskirche eine besonderes theologisches Profil, indem er sein Kirchenverständnis auf den Gedanken des heiligen christlichen Volkes, das sich Gott selbst erschafft, fokussiert; und er gibt der Volkskirche einen starken Impuls, indem er die Theorie des allgemeinen Priestertums gegen das römische Konzept einer hierarchisch strukturierten Kirche mit einem auf die Weihe durch den Bischof gegründeten besonderen exklusiven Priestertum in Stellung bringt, womit die Verantwortung für die Kirche, soweit diese eben auch in menschliche Verantwortung gegeben ist, bei allen Kirchenmitgliedern liegt.

 

Am Schluss dieses Teils möchte ich noch kurz an CA7, den wichtigsten Kirchenartikel, erinnern. Durch das berühmte „satis est“ – dass es nämlich genug ist „zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen“ übereinzustimmen über die Lehre des Evangeliums und über die Handhabung der Sakramente – ist Freiheit gegeben in Bezug auf alles andere, z.B. alles Organisatorische. Die Reformatoren haben nicht den Fehler begangen, den derzeitigen Zustand ihrer von ihnen neu geordneten Kirche festzuschreiben, sondern haben Raum gegeben für Anpassung, Veränderung oder auch für begründetes Festhalten an Bewährtem. Alles was über die beiden notae hinaus, die nicht verhandelbar sind, zu regeln ist, muss sich nur an zwei Kriterien messen lassen: ob es der geistlichen Aufgabe der Kirche dient und ob es zur Ordnung der Kirche in ihren inneren und äußeren Verhältnissen beiträgt. Diese Freiheit, die von Luther auch nicht durch die Erweiterung der Erkennungszeichen der wahren Kirche bzw. des christlichen Volkes eingeschränkt wurde, gibt auch der praktischen Theologie immer etwas zu tun. Gäbe es sie nicht, könnten wir nur verwalten und überprüfen, ob alles noch so ist wie früher.

 

Dritter Teil:

Konsequenzen für die kirchliche Praxis  in der Gegenwart

Wir wollen realistisch sein. Was den Ausdruck „Volkskirche“ betrifft, so bin ich doch sehr ungewiss, ob das Verständnis von Volkskirche, wie ich es vertreten habe, sich noch gegen das quantitative Missverständnis durchsetzen lässt. Was in so vielen Köpfen bis hinauf in die Kirchenspitze steckt, wird man wohl nicht mehr los. Aber wir müssen ja auch nicht den Titel Volkskirche retten; sondern das Konzept mit seinen beiden Brennpunkten „Kirche für das Volk“ und „Kirche durch das Volk“, das sollten wir festhalten und in Handlung umsetzen.

 

Die kritische Situation, in der sich unsere Kirche hierzulande gerade befindet, ist im Wesentlichen die Folge eines von langer Hand angebahnten Mentalitätswandels. Die Gesellschaft wird immer säkularer und verhält sich entsprechend. Man kann das ausführlich aus Umfragen belegen, aber ganz unmittelbar ist es erkennbar an typischen Sätzen, mit denen die Leute – beispielsweise in Talkshows – sich hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Christentum erklären. Früher – sehr viel
früher – hörte man oft Sätze nach dem Schema: „Gott ja!“ (irgendwie schon, ich bin jedenfalls kein Atheist), aber „Kirche nein!“, die brauche ich nicht. Später wurde dann „Gott“ ersetzt durch „Spiritualität“: Irgendwie bin ich auch ein spiritueller Mensch, aber nicht so, wie die Kirche das gern hätte. Inzwischen wird immer häufiger offen bekannt, man sei Atheist oder Agnostiker. Oder man bekennt sich einfach als „religiös unmusikalisch“.

 

Diese Entwicklung in der grundsätzlichen Einstellung spiegelt sich natürlich dann auch in der sinkenden Mitgliederzahl. Evangelische und Katholische machen zusammen jetzt nur noch 46 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Hier zeichnet sich ein für uns unaufhaltbarer, jedenfalls unumkehrbar gewordener Prozess des Unselbstverständlichwerdens von ehedem Selbstverständlichem ab. Man war in früheren Zeiten einfach Christ und in der Kirche, das gehörte sich so. Die einst im Familienleben, in dessen Rhythmus verankerten Elemente kirchlicher Sitte sind weitgehend dahin. Und sie lassen sich auch nicht mittels kirchlicher Reformprogramme durch Neues, das ja ebenfalls den Charakter von Sitte und Tradition erhalten müsste, ersetzen. Traditionen sind eben nicht produzierbar, sie müssen aus dem Volk, besonders aus den Familien kommen.

 

Was dem nach religiöser Orientierung suchenden Individuum mehr und mehr genommen wird, ist das, was die neuere Wissenssoziologie (von Peter Berger und Thomas Luckmann) die „Plausibilitätsstruktur“ genannt hat. Man sieht sich als jemand, der es mit dem christlichen Glauben versuchen möchte, in einer vereinzelten intellektuellen Lage, die nicht mehr von einer großen Menge ähnlich denkender und fühlender Individuen oder von sogenannten signifikanten Anderen geteilt und damit unterstützt wird. Mit diesem Dahinschmelzen der Plausibilitätsstruktur erhält der Prozess der Abstandnahme von Kirche und christlichem Glauben eine gewisse Eigendynamik; er sorgt für seine eigene Kontinuierung. Denn wer will schon zu den Losern gehören? Sollte man es also nicht besser mit der glaubensfernen Mehrheit halten?

 

Dieser Effekt, sich dem allgemeinen Trend anzuschließen wird noch verstärkt durch die intellektuellen Meinungsmacher oder Influencer, deren religions- und kirchenkritische Slogans über die verschiedenen Medien, nicht zuletzt die Social Media, in die breite Öffentlichkeit infiltriert werden und damit gesellschaftliche Omnipräsenz erlangen. Der Sprache der Trends, ihrer Statistik und ihren Hochrechnungen, sowie den vielfältigen Einflüsterungen erliegt der Zeitgenosse früher oder später, sofern er nicht durch eine bestimmte auf selbständige Urteilskraft abzielende Sozialisation ein hinreichendes Potential an Resilienz erworben hat.

Und schließlich gibt es auch eine Reihe von inneren Widerständen oder Vorbehalten, die sich im Zusammenhang mit kritischen Fragen einstellen und verfestigen, Fragen, welche alle den christlichen Glauben selbst und zwar ganz zentral, nämlich als persönliche Gottesbeziehung betreffen. Diese Fragen befallen nahezu alle Zeitgenossen, auch die Kirchenchristen selbst. Es gab diese Fragen und die entsprechenden Vorbehalte auch schon immer, aber sie werden durch soziokulturelle Gegenwartsphänomene besonders forciert. Bei diesen Fragen können wir nun auch ansetzen; während man Trends nicht direkt beim Schopf packen kann. Was sind das für Fragen? Es sind vier: erstens die Frage nach der Existenz Gottes auf dem Hintergrund eines naturwissenschaftlich-empiristischen Weltbildes, das unsere Alltagsontologie zwangsläufig bestimmt. Zweitens die Frage nach dem Nutzen von Religion und Glaube. Schaden sie nicht viel mehr, indem sie etwa die Menschen fanatisieren? Natürlich muss die Frage nach dem Nutzen des religiösen Glaubens theologisch beantwortet werden. Aber das Fatale ist hier, dass die Nutzenfrage die Frage nach der Wahrheit von ihrem theologisch angestammten ersten Platz verdrängt. Für die Bibel ist aber die Wahrheitsfrage fundamental: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8, 32). Oder: „Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ Hintergrund des Platzwechsels ist vor allem die Vorherrschaft ökonomischer Rationalität. Drittens geht es um die Schwierigkeit mit religiösen Wahrheitsansprüchen im Zusammenhang mit dem religiösen Pluralismus in der modernen Gesellschaft. Und viertens geht es um das Problem, wie sich die Wahrnehmung des Bösen, des ungeheuren Leidens und der Ungerechtigkeit in der Welt mit dem Glauben an einen guten und gerechten Gott vereinbaren lässt, also die sogenannte Theodizeefrage. (Hintergrund sind hier die großen Katastrophen besonders des 20. Jahrhunderts, aber auch entsprechende Verbrechen in der Gegenwart. All diese Fragen können zu intensiven Überlegungen und auch zu tragfähigen Antworten führen, aber auch durch kurzschlüssige Argumente oder Parolen abgewürgt werden, wozu auch die Intellektuellen in der Medienprominenz ihre Beiträge liefern, indem sie insinuieren, die christlichen Kirchen hätten dazu heute nichts Hilfreiches und Überzeugendes mehr zu sagen.

 

Ich kann jetzt auf die genannten Fragen nicht weiter eingehen, muss das auch nicht.20 Ich habe sie hier nur erwähnt, weil daran deutlich wird, auf welche Weise, wenn überhaupt, wir etwas für die Bewahrung der Volkskirche und für ihre Sache tun können. Nämlich nicht durch Projekte und Experimente, ganz neue Formate für den Gottesdienst und weitere kirchliche Veranstaltungen, auch nicht durch einschneidende Strukturreformen – das alles mag in gewissem Ausmaß zwar gelegentlich auch einige kurzfristige Erfolge haben. Aber wir kommen so nicht an den Kern der Sache heran: den beschriebenen Prozess der fortschreitenden Säkularisierung, der auf der Ebene der Mentalität, d.h. der inneren Einstellung, somit auch der gefühlsmäßigen Selbst- und Weltwahrnehmung verläuft. An den kommen wir nur heran durch die Bildungsarbeit, die wir mittels der kirchlichen Kommunikation leisten können. Es geht um Bildung, aber nicht um Bildung im Sinne von Vielwissen von Fakten, wie es in den Quizsendungen abgefragt und fälschlicherweise als Allgemeinbildung bezeichnet wird, sondern Bildung als „Menschenbildung“, also Bildung zum wahren Menschsein oder zur menschlichen Reife, was z.B. auch „Herzensbildung“ einschließt. Wird so nach Bildung gefragt, vielleicht sogar nach einem bestimmungsgemäßen Leben als Bildungsziel, dann ist hier auch und sogar vorab die Kirche zur Stelle mit ihrer Antwort, mit ihrem Menschenbild, mit dem Evangelium im Zusammenhang mit Gottes schöpferischem und vollendendem Handeln.

 

Ich habe die Kirche oft als Bildungsinstitution bezeichnet und differenziert beschrieben.21 Ihre wesentlichen Bildungsleistungen erbringt die Kirche aber nicht durch Voten in die breite Öffentlichkeit, also auf der Ebene von Kirchenführern, Kirchenleitungen und Synoden, sondern in den Parochien und hier besonders durch den Gottesdienst, der den Glauben stärkt und damit die Person in ihrem Zentrum formt, somit bildet. Es wird immer wieder betont, dass die Parochie, die Ortsgemeinde, so wie wir sie kennen, historisch gewachsen ist und deswegen auch aufgehoben werden könnte. Wir sollten dieser Empfehlung auf keinen Fall folgen. Die Parochie ist die engste Verbindung von sozialer Lebenswelt und religiösem Kultus in face-to-face-Kommunikation. Ihr absolutes Gegenteil wäre Kirche als ein hoch spezialisierter und zentral gemanagter Dienstleistungskonzern, dessen Service möglichst auf digitalem Wege abgerufen und erledigt werden kann. Eine Horrorvision, auch wenn es dann jene Missbrauchsfälle, von denen in der Presse beständig geredet wird, kaum mehr gäbe. – Was ist zu tun?

Um es kurz zu sagen: Besinnen wir uns auf das, was wir gelernt haben und können, und optimieren wir das! Wir brauchen keine neuen Formate, jedenfalls nicht als Erstes, sondern lasst uns die alten und traditionsgestützten Formate mit neuem Leben erfüllen! Also, um nur ein Beispiel zu nennen: Versuchen wir nicht, die Predigt als Kanzelrede über einen biblischen Text und ein damit zusammenhängendes und uns  beschäftigendes Thema durch etwas anderes zu ersetzen, denn die Predigt ist als eine spezifische Form kirchlicher Kommunikation22 nicht ersetzbar, sondern predigen wir modern und kreativ im bewährten Schema, indem wir die eben genannten vier kritischen Fragen aufgreifen und beantworten und gelegentlich auch einmal das Thema Kirche ansprechen. Also: Anstrengungen auf unseren klassischen parochialen Arbeitsfeldern Gottesdienst und Predigt, Seelsorge und Unterricht dürften immer noch am erfolgreichsten sein. Das gilt übrigens auch hinsichtlich der Verantwortung der Kirche für und ihrer Einwirkungen auf das Ganze der Gesellschaft, auf das bonum commune. Auch diese Wirkungen entstehen in erster Linie nicht aus Verlautbarungen kirchlicher Prominenz in die Öffentlichkeit – das wird total überschätzt –, sondern sie entstehen aus dem, was in unseren Ortsgemeinden erreicht wird, denn hier bilden wir Menschen, die je an ihrem Ort an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens teilhaben. Die Äußerungen der kirchlichen Prominenz finden zwar mehr öffentliche Beachtung, weil sie in den Medien aufgenommen werden, bewirken aber relativ wenig. Bei der Bildungsarbeit in den Gemeinden ist es genau umgekehrt: sie werden öffentlich nicht beachtet, bewirken aber umso mehr. Also noch einmal: Festhalten an der Parochie – was das eine oder andere überparochiale Angebot sowie sinnvolle Gemeindefusionen natürlich nicht ausschließt. Aber in dem Maße, wie Ortsgemeinde überhaupt abstürbe, würde die religiöse Kommunikation aus dem öffentlichen Leben verschwinden und vermutlich auch die Nachfrage nach den Kasualien noch weiter zurückgehen und damit auch die Beziehung zwischen Glaubenskommunikation und individueller Lebensgeschichte geschwächt werden.

 

Die neue Mitgliedschaftsuntersuchung zeichnet bezüglich der weiteren Entwicklung und der sie bestimmenden Tendenzen ein teilweise düsteres Bild. Sie enthält aber auch wenigstens zwei Feststellungen, die positiv aufmerken lassen. Nämlich erstens: Die große Zeit der Esoterik und der Gurus ist offenbar vorbei.23 Und zweitens: Die verbliebenen kirchentreuen Christen sind keineswegs so reflexionsarm bzw. simpel, wie ihnen jahrzehntelang unterstellt wurde.24 Kombiniert man beide Feststellungen, dann scheint es für nachdenkliche Zeitgenossen auf die Alternative hinauszulaufen: entweder der christliche Glaube oder gar nichts bzw.: wenn überhaupt etwas in puncto Religion, dann der christliche Glaube, das Evangelium. Und das ist ja auch genau die Alternative, auf die uns die christliche Botschaft und Lehre selber schon anspricht. Denn die Bibel gibt mir nirgendwo die Empfehlung, mich erst einmal auf dem Felde der spirituellen Möglichkeiten umzusehen, um mir daraus nach Gutdünken etwas für mich – und nur für mich – Passendes zusammenzustellen, sondern sie sagt, dass ich mein Grundvertrauen, das mich trägt im Leben und im Sterben, auf den gnädigen Schöpfergott setzen soll und nicht auf irgendein innerweltliches, zeitliches und damit vergängliches Gut, mit dem ich früher oder später Schiffbruch erleide, weil es nämlich zu Gott dem Schöpfer, Erlöser und Vollender gar kein funktionales Äquivalent geben kann. Gott kann allenfalls verdrängt, aber nicht ersetzt werden. Diese sich abzeichnende Alternative sollten wir bei unserer Bildungsarbeit, zumal unseren Predigten im Blick haben. Dabei muss den Adressaten deutlich werden, dass unser Glaube und unser christliches Wirklichkeitsverständnis eine intellektuell redliche Position ist, d.h. erstens eine in sich stimmige, nicht widersprüchliche, Position, die zweitens jede wissenschaftlich solide Erkenntnis akzeptieren und gegebenenfalls sogar integrieren kann (also z. B. die Evolution nicht bestreiten muss) und drittens Zweifeln und Einwänden nicht ausweicht und keinen Erfahrungsbereich systematisch ausblendet. Wir können den Glauben so zwar nicht zielsicher herbeiführen, aber wir können ihm eine ihn empfehlende Darstellung geben durch unser Wort und auch durch die Tat und so dem Wirken des Geistes Gottes zu Hilfe kommen.