Ein erster Blick auf die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersung

 

Stephan Sticherling

"Kirchliches Handeln ist… Herausforderungen ausgesetzt, die miteinander in Spannung stehen. Den Wandel hin zu einem minoritären und zugleich gesellschaftlich selbstbewussten, für Einzelne relevanten Christentum zu moderieren und zu gestalten, stellt für die Kirche eine Aufgabe dar, die ihre Kräfte und Ressourcen aufs Äußerste anspannen wird." (Überblicksband KMU 6, Seite 38)

 

Diese Erkenntnis hätte man, wenn auch nicht ganz so stilvoll, ganz einfach formulieren können: Wir wissen gerade mal auch nicht weiter. Wir müssen erst mal gucken, wie wir damit umgehen. Stattdessen aber melden sich Kirchenoffizielle - ich bin im Facebook auf zwei von ihnen gestoßen - noch am Tage der Veröffentlichung der 6. KMU zu Wort und erteilen ihre gut gemeinten Ratschläge. Und zwar exakt diejenigen, die sie auch bisher schon immer hatten. Aber warum nicht zugeben: Wir sind im Moment noch ratlos. Gewiss werden wir mit der Zeit lernen, mit den gewonnenen Erkenntnissen umzugehen. Aber lasst doch erst mal sacken, was es da zu lesen gab!

Da ist zum Beispiel die Beobachtung, dass „religiöse Praktiken insgesamt rückläufig“ sind und „die Mehrheit der Bevölkerung sich selbst als nicht religiös“ einstuft. Unter dem Stichwort „Perspektiven für das Handeln der Kirche“ sei nicht mehr davon auszugehen, „dass Religiösität eine anthropologische Konstante ist, die nicht zurückgehen könnte.“ Sinnvoller sei es, „sich Religion als ein kulturelles Phänomen vorzustellen, das – wie andere kulturelle Phänomene auch – Phasen der Ausbreitung oder des Rückgangs durchlaufen kann. Wenn Religion aus dem Leben von Einzelnen verschwinden kann, dann kann sie sogar aus Gesellschaften verschwinden. Es gibt kein anthropologisches Auffangnetz für kirchliches Handeln.“ (Überblicksband KMU 6, Seite 37)

 

Diese Feststellung verwundert ein wenig. Haben die Autorinnen und Autoren Beispiele von Gesellschaften vor Augen, in denen Religion – „als kulturelles Phänomen“, wie gesagt – verschwunden ist? Sie werden ja wohl nicht an totalitäre Staats-Atheismen albanischer, sowjetischer oder nordkoreanischer Herkunft denken?

 

Nun aber tut die 6. KMU genau das: Sie stellt „sich Religion als ein kulturelles Phänomen“ vor. Doch wissen wir, dass die Art und Weise, wie Beobachtetes dem Beobachter erscheint, weithin abhängig ist von der Beobachtung selbst ist, und der Art und Weise, wie der Beobachter sie vornimmt. Deswegen ist es nicht unbedingt überraschend, dass „religiöse Praktiken insgesamt rückläufig“ sind und „die Mehrheit der Bevölkerung sich selbst als nicht religiös einstuft“.

 

Die Befragten mögen sich selbst so einschätzen. Doch wenn man Religiösität als etwas beschreibt, das weit mehr ist als das, nämlich tatsächlich eine anthropologische Grundkonstante, also als etwas, was zwingend zu unserem Menschsein dazugehört, dann sieht die Sache völlig anders aus. Folgt man dem auch im Überblicksband zitierten Thomas Luckmann, müsste doch klar sein, dass selbst dann, wenn die Kirchen nicht mehr da wären und aus den Stadtsilhouetten und Landschaftsbildern verschwänden, sich das Christentum nicht einfach in Luft auslöst. Wenn man statt von „Religion“ vom „Vertrauen“ spricht, dann stellt sich die Lage anders da. Sascha Lobo hat in seinem Buch „Die Große Vertrauenskrise – ein Bewältigungskompass“ (2023) gezeigt, dass, ähnlich wie das persönliche Vertrauen für den Einzelnen überlebenswichtig ist, genauso für die Gesellschaft ein allgemeines, öffentliches Vertrauen unentbehrlich ist, wenn sie funktionieren und gedeihen soll. Tatsächlich aber ist sie von einer Kultur des Misstrauens bedroht, wie dies u. a. in rechtspopulistischen Phänomenen zum Ausdruck kommt. Sascha Lobo beantwortet die von ihm aufgeworfene Frage pragmatisch und kommt auf Religion nicht zu sprechen. Aber uns sollte doch klar sein, dass wir als Kirche diesbezüglich eine Schlüsselrolle innehaben, egal für wie viel oder wenig religiös die Menschen sich halten. Denn der Frage, auf wen sie vertrauen, auf wen sie sich verlassen können, kann kein Mensch ausweichen.                                                                                                                      

Unsere Kultur ist von dem Bestreben bestimmt, möglichst viel von der Welt und vom Leben verfügbar, berechenbar, steuerbar zu machen und unter Kontrolle zu bringen, wie Hartmut Rosa in seinem Resonanz-Buch und gebündelt noch einmal in seinem Büchlein „Unverfügbarkeit“ darstellt. Was aber ein Menschenleben wertvoll macht und gelingen lässt, ist nicht das, was der Mensch beherrschen und berechnen kann. Das Entscheidende ist unverfügbar. Was einen Menschen anspricht, anrührt, was seine Sehnsucht, sein Begehren weckt, was ihn bewegt, was ihm Sinn gibt, was ihn erfüllt, und was er seinerseits anzurufen, zu wecken, zu berühren, lebendig werden und wachsen zu lassen bestrebt ist, was ihm Geborgenheit gewährt, wozu er in ein gegenseitiges Resonanzverhältnis treten möchte, kann niemals verfügbar sein. In dem Augenblick, wo Unverfügbares verfügbar wird, verstummt es und in ein Antwortgeschehen, ein Resonanzverhältnis dazu einzutreten, wird unmöglich. Tatsächlich ist aber unsere Kultur von dem Wunsch beseelt, gerade das Unberechenbare berechenbar zu machen und was unkontrollierbar ist, unter Kontrolle zu bringen und das gesamte Geschehen steuerbar zu machen. Die Kirche ist davon nicht ausgenommen. Sie stellt etwa Berechnungen darüber an, wie sich die Mitgliedschaft in ihr und ihre finanziellen Verhältnisse bis zum Jahr 2060 mutmaßlich entwickeln werden, weil sie diese Informationen braucht, um die Kirche zu steuern und kontrollierbar zu halten.

 

Wenn aber alles, so weit es geht, unter Kontrolle gebracht und verfügbar gemacht ist, dann droht das Ganze erst recht unverfügbar zu werden. Aus der ursprünglichen Unverfügbarkeit, die Verheißungen in sich birgt, wird eine unheimliche Unverfügbarkeit, die nur noch bedrohlich ist. Das kann man an der Atomenergie beobachten: Der Traum, über einen gerade unerschöpflichen Vorrat an Energie verfügen zu können, wurde zum Alptraum einer Bedrohung durch die nicht mehr zu kontrollierende, unsichtbare, sich ausbreitende radioaktive Strahlung, die, wenn sie einmal da ist, nicht mehr verschwindet. Hartmut Rosa nennt etliche weitere Beispiele dafür aus allen Lebensbereichen, wie verheißungsvolle Unverfügbarkeit in Verfügbarkeit verwandelt werden soll und dann in bedrohliche Unverfügbarkeit umschlägt.

 

Gerade deswegen haben die Kirchen, auch für Rosa, für demokratische Gesellschaften zentrale Bedeutung, weil sie das Bewusstsein dafür wachhalten, dass das, was den Wert des einzelnen Menschenlebens wie auch des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausmacht, unverfügbar ist. „Demokratie bedarf eines hörenden Herzens, sonst funktioniert sie nicht. Ein solches hörendes Herz fällt aber nicht vom Himmel… Meine These lautet, dass es insbesondere die Kirchen sind, die über Narrationen, über ein kognitives Reservoir verfügen, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann....  Die Gesellschaft, ja die Demokratie bedarf der Fähigkeit, sich anrufen zu lassen.“ (Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion, 2022; Seite 55f. 57)

Würde das Christentum dagegen sich langsam, aber unumkehrbar auflösen, dann nämlich würde der von ihm verlassene Raum von Geistern, Mächten und Gewalten bevölkert werden, die wir nicht mehr unter Kontrolle hätte, vielmehr hätten sie uns im Griff, und vielleicht deutet sich sowas schon an? Es ist ja vielleicht kein Zufall, dass sich Rechtspopulismus besonders in Ostdeutschland breit macht, wo die Kirchen kaum noch eine Rolle spielen. Wenn den Deutschen nichts mehr heilig ist, nichts mehr unantastbar, dann wird es irgendwann die Menschenwürde auch nicht mehr sein. Es kann ja kein Zweifel sein, das Artikel 1 des Grundgesetzes ohne das Christentum niemals hätte formuliert werden können - und wenn dieser Grundartikel obsolet wird, dann zerbricht die gemeinsame Wertebasis, die die Gesellschaft zusammenhält.

 

Aber was wäre, wenn den Deutschen tatsächlich nichts mehr heilig wäre? "Eine Steigerung ihrer Attraktivität kann die Kirche in der aktuellen Lage nicht über rein religiöse Aktivitäten gewinnen. „Heiliges“ wird nicht erwartet, die Nachfrage nach Religion ist gering." (Überblicksband KMU 6, Seite 66)  Soll daraus der Schluss gezogen werden, die Leute mit "heiligen" und religiösen Aktivitäten und Angeboten zu verschonen, weil dies "zu einer Distanzierung der Mehrheit der säkularen und distanzierten Kirchenmitglieder führen" könnte, die sich "an solche Ausdrucksformen schwer anschließen können"? Das würde bedeuten, dass die Kirchen darauf verzichten müssten, das zu inszenieren und darzustellen, was ihr Alleinstellungsmerkmal und ihren Markenkern ausmacht, um nicht auch noch die zu verschrecken, die ihr noch angehören. Das würde sie jedoch unscheinbar, verwechselbar, austauschbar und verzichtbar machten, und ob das die Autorinnen und Autoren der 6. KMU so meinen, kann ich mir nicht so recht vorstellen.

Wer vom "Heiligen" erfasst wird, war nicht darauf vorbereitet, wer Gott begegnet, war darauf nicht eingestellt, wer vom Wort Gottes angesprochen wird, hatte es nicht darauf angelegt. Der durch und durch weltliche und kaum religiöse Jakob hat "Heiliges" nicht erwartet, als er die Himmelsleiter schaut ("Der Herr ist an dieser Stätte und ich wusste es nicht"); der kriminelle Mose hat "Heiliges" nicht erwartet, als er auf den brennenden Dornbusch stößt ("Zieh deine Schuhe von deinen Füßen"); Jesaja hat "Heiliges" nicht erwartet, als er den Herrn im Tempel sieht ("Weh mir, ich vergehe!"), Jesus hat "Heiliges" nicht erwartet, als bei seine Taufe sich der Himmel über ihn öffnet ("Du bist mein Sohn"), die Jünger haben "Heiliges" nicht erwartet, als sich diese Szene auf dem Berg der Verklärung wiederholt ("Hier lasst uns Hütten bauen"); die Jerusalemer haben "Heiliges" nicht erwartet, als Jesus im Tempel aufräumt ("Mein Haus soll ein Bethaus heißen"), Paulus hat "Heiliges" nicht erwartet, als ihm der Auferstandene auf dem Weg nach Damaskus begegnet ("Warum verfolgst du mich?"). Und wir sollen die Leute mit "Heiligem" verschonen, um sie nicht zu verschrecken! Im Blick auf den hohen wissenschaftlichen Anspruch, den die 6. KMU erhebt, ist dies ein vergleichsweise flaches und eigentlich schon peinliches Argument.

 

Dann allerdings, etwas überraschend, stoßen wir – auch im Widerspruch zu dieser Feststellung über das "Heilige" – auf einen sehr hilfreichen Hinweis um Umgang mit den Ergebnissen der Untersuchung. Sie stellt die Frage:

"Wie kann der Mehrwert religiösen Erlebens, Denkens und Handelns Menschen vermittelt werden, die Religion aus ihrem Leben verabschiedet haben?"

Um darauf zu antworten:

 

"Zugespitzt könnte man Säkulare z. B. dazu einladen, sich spielerisch auf „nützliche Fiktionen“ einzulassen. Das bedeutet, auch Annahmen einmal vorläufig zuzulassen, die man selbst für unplausibel hält, solange sie nur lebenspraktisch hilfreich sind, individuell oder sozial."

Damit ist ein Weg beschrieben, der Säkularen die Tür zum Glauben eröffnen kann, ohne diese zu bevormunden und ihre Freiheit zu gefährden. Sie werden nicht genötigt, eine "Einstellung" vorzunehmen bzw. sie zu ändern, ein Bekenntnis abzulegen oder ein Credo bzw. den Eintritts-Antrag in die Kirche zu unterschreiben. Vielmehr sollen sie die Gelegenheit haben, den Glauben auszuprobieren, spielerisch zu erproben, sich testweise darauf einzulassen. Das wäre der Kern einer angemessenen Erwachsenen-Katechese und einer Einübung in den christlichen Glauben. Die Kirche ist ein Spiel, sie lässt sich inszenieren. Wenn Jüdinnen und Juden den Seder-Abend zu Pessach feiern, spielen sie den Aufbruch aus Ägypten nach, um selbst dabei zu sein. Wenn wir Abendmahl feiern, spielen wir die Szene nach und setzen uns gewissermaßen mit an den Tisch, an dem seine Jünger sitzen und Jesus den Neuen Bund stiftet. Wir sind dabei, wenn in der Verkündigung das „Heute“ des Evangelisten Lukas ergeht: Heute ist euch der Heiland geboren. Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren. Heute ist diesem Haus Heil widerfahren.

 

Gottesdienst, spirituelle Praxis und Rituale sind Spiele, die jeder und jedem das Mit-Spielen erlauben oder auch nur das Zuschauen. Das biblische Geschehen wird in die Gegenwart geholt, indem es (nach-)gespielt und inszeniert wird, und wir kommen selbst in der der Geschichte vor, die die Heilige Schrift erzählt.

 

Das aber ist etwas anderes, als sich an die Wünsche und Vorstellungen der Zeitgenossen anzupassen, um diese in der Kirchenmitgliedschaft zu halten. Das wird nicht gelingen. Insgesamt vermittelt die 6. KMU auf diesen ersten Blick hin den Eindruck einer anspruchsvollen wissenschaftlichen Studie, die von kompetenten und professionellen Fachleuten erstellt wurde (wiewohl ich das nicht wirklich beurteilen kann). Die Ausformulierung der unter der Überschrift „Perspektiven für das Handeln der Kirche“ zu ziehenden Schlussfolgerungen steht aber noch ganz am Anfang. Es ist zu hoffen, dass in dem großen Auswertungsband, der in der zweiten Hälfte von 2024 veröffentlicht werden soll, die hier angedeuteten Fragen eine angemessene Antwort finden.