Mitglieder-Orientierung

Mitglieder-Orientierung - so lautet das Stichwort, mit dem Präses Latzel und die Kirchenleitung die Gemeinden der Rheinischen Kirche auf Trab bringen will. Jedes Mitglied unserer Kirche hat Anspruch darauf, dass man sich an ihm orientiert. Je mehr die Kirche sich an den Mitgliedern orientiert, umso mehr, das ist zumindest die Hoffnung, entscheiden diese sich, in der Kirche zu bleiben und umso mehr sinken die Austrittszahlen, wenn sie auch nicht ganz verschwinden werden.

Dahinter steht in der Tat ein reales Problem. Viele der Mitglieder haben in der Tat keine oder fast keine Beziehungen zu Ortsgemeinde. Sie werden von ihr nicht wahrgenommen - bei zwei- bis dreitausend Gemeindegliedern pro Pfarrstelle ist das oft schlicht auch nicht möglich. Unbefriedigend ist das für beide Seiten, für die Mitglieder wie für die Verantwortlichen in der Gemeinde oder die Kolleginnen und Kollegen im Pfarramt. Jedoch wird Mitglieder-Orientierung zu einem mühsamen bis vergeblichen Geschäft, wenn man die Klärung vernachlässigt, was eigentlich ein "Mitglied" ist und was unter Mitgliedschaft verstanden werden soll. Konkret geht es darum, auf diese drei Fragen Antwort zu geben


·        Wissen die Mitglieder, wo sie Mitglied sind (oder werden sollen), was also mit "evangelisch" gemeint ist und könnten sie das erläutern, wenn sie danach gefragt werden? Hier geht es um die Frage der Sprachfähigkeit.


·        Wissen die Mitglieder, wie sie ihre Mitgliedschaft wahrnehmen können und sollen, um das Evangelischsein einzuüben, zu üben und auszuüben? Hier geht es um die Frage der Praxis.


·        Wissen die Mitglieder, wie sie für das, wo sie Mitglied sind, vor Ort eigenständig Verantwortung übernehmen und damit die evangelische Kirche zu ihrer Sache und Angelegenheit zu machen? Hier geht es um die Frage der Mündigkeit.


Hier geht es also um die Frage der Sprachfähigkeit, der Praxis und Mündigkeit der Mitglieder. Es lässt sich, ähnlich wie bei Parteien, Gewerkschaften oder Sportvereinen, zwischen aktiver und passiver Mitgliedschaft unterscheiden, doch dürfte jedem unmittelbar einleuchten, dass auch eine passive Mitgliedschaft nur dann stabilisiert und ausgebaut werden kann, wenn in erster Linie die Orientierung an der aktiven Mitgliedschaft im Blick ist - solcher also, die sprachfähig, geübt und mündig sind oder werden sollen. Würde man sich ausschließlich oder fast ausschließlich auf die Förderung der passiven Mitgliedschaft unter Vernachlässigung der aktiven konzentrieren, würde sie langfristig keinen Bestand haben und schnell auseinanderfallen. Passive Mitgliedschaft wird es nur geben, werden diese sich um eine aktive Mitgliedschaft legen kann.


Es liegt nahe, dass die Mitgliederorientierung bei der Bildung und Förderung der aktiven Mitgliedschaft beginnen muss. Es liegt zweitens nahe, dass die Betreuung der aktiven Mitgliedschaft zwar nicht die einzige, wohl aber die vornehmste Aufgabe des Pfarramtes ist. "Der Pfarrer für die Mitarbeiter und die Mitarbeiter für die Gemeinde", so hatte man es damals im missionarischen Gemeinde-Aufbau ausgedrückt. Die Verantwortung für Wort und Sakrament kann nur wahrgenommen werden, wenn es eng verbunden mit Bildung und Seelsorge ist, und zwar im Sinne einer Anleitung zu Sprachfähigkeit, Praxis und Mündigkeit.


1. Wenn es um die Sprachfähigkeit geht, spielen die Bekenntnisse unserer Kirche noch immer die Schlüsselrolle; zwar nicht zum Auswendiglernen oder zur Aneignung von Katechismuswissen, wohl aber als Kriterium dafür, was evangelisch ist. Solche kraftvollen, unmissverständlichen und unzweideutigen Aussagen wie die Frage 1 des Heidelberger Katechismus, die Erklärung zum zweiten Artikel im Kleinen Katechismus oder die ersten beiden Thesen der Barmer Erklärung lassen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig, wobei es nicht um Wortlaut und Formulierung, sondern um den Inhalt geht. Um zu erläutern, was evangelisch ist, benutzt man gerne und zurecht das vierfache 'allein", allein die Schrift, allein Christus, allein aus Gnaden, allein durch den Glauben. Damit ist klar, dass die evangelische Kirche nicht der Ort für eine frei wabernde, beliebige und unverbindliche Religiösität ist, durch die jedermann nach der eigenen Fasson selig werden kann. Vielmehr liegt unmissverständlich offen, was evangelisch ist. Von den passiven Mitgliedern darf und kann man nicht verlangen, dass sie sich daran halten, aber von den aktiven Mitgliedern, von denen Gedeihen und Zukunft der evangelischen Kirche abhängt, darf und muss man erwarten, dass sie sich darüber im Klaren sind. Wissen sie eigentlich, dass der Gott Israels unser Gott ist? Und dass es (allein) Jesus ist, dem wir verdanken, dass wir den Gott Israels im Namen Jesu anrufen? Dass wir durch dessen Tod am Kreuz und seine Auferstehung ein für alle und ohne dies rückgängig machen zu können, versöhnt und erlöst sind und dass endgültig (!) zwischen uns und Gott Frieden herrscht? Dass dies nicht nur für uns, sondern, ebenso unverrückbar, für alle Menschen, für die ganze Welt gilt, nur dass die Welt davon noch nichts weiß? Dass wir in der Taufe zum Priestertum der Getauften berufen wurden oder werden, damit die Welt dies durch uns erfährt, auf welchen Wegen und Weisen auch immer? Das ist evangelisch. Das macht sie identifizierbar, das ist ihr Alleinstellungsmerkmal, damit lässt sie sich unterscheiden. Erkennbarkeit ist Voraussetzung, um sich mit etwas identifizieren zu können.


2. Dem "Allein aus Gnade" entspricht auf der Seite des Menschen das "allen aus Glauben". Glauben ist die der Gnade, der Rechtfertigung, der Versöhnung entsprechen Erfahrung, die sehr unterschiedlich ausfallen kann, als Gelassenheit, Tiefenentspannung, Gelöstheit, Kreativität, Engagement oder Leidenschaft. Glauben als Erfahrung stellt sich entweder spontan, überraschend und unwillkürlich ein - so wie ich selbst es wie viele andere erlebt habe, als ich die "Rechtfertigung allein aus Gnade durch den Glauben" zum ersten Mal begriffen habe. Auch Martin Luther erzählt dies so von sich selbst. Glauben als Erfahrung lässt sich aber auch einüben. Das Kennzeichen des Menschlichen am Menschen ist, dass er ein übendes Wesen ist (Sloterdijk); alle Tätigkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen, über die er verfügt, vom Umgang mit Messer und Gabel bis hin etwa zum Spielen eines Klavieres, musste er im Laufe seines Lebens einüben. Für den Glauben gilt eben dies; er wird nicht einfach zuerkannt, sondern durch Einübung und Übung nach und nach erworben (auch dann, wenn jene vorhin erwähnte spontane und unwillkürliche Glaubenserfahrung dem vorausgeht). Glauben ist nicht nur Zustand oder Eigenschaft, sondern einzuübende Praxis.


Das bezieht sich auf das Schweigen, das Loslassen, das "sich-verlassen" als Grundlegung des Glaubens. Eine Begegnung mit Gott setzt die Stille voraus, die daher für Einübung der Praxis des Glaubens unverzichtbar ist. Sich selbst hier und jetzt wahrzunehmen, ohne Urteile und Wertungen vorzunehmen (was der Rechtfertigung allein aus Gnade entspricht), den Atem fließen zu lassen, das Lösen aller Spannungen und Verkrampfungen einzuüben, dafür braucht es Zeit, aber irgendwann fängt er tatsächlich an, einen Menschen zu halten oder zu tragen und wird damit zu einem echten, beglückenden Erlebnis.


Das bezieht sich auf das Lesen (und Schreiben) als einer Sonderform der Meditation, oder, wenn man so will, der typisch evangelischen Form der Meditation, so, wie die Reformation ja auch einer Kultur der Literatur, des geschriebenen und zu lesenden Wortes ermöglicht hat. Dabei handelt es ich nicht um das uns den ganzen Tag beschäftigende Lesen von kürzesten und fragmentarischen Informationen, die für Sekunden auf irgendwelchen Bildschirmen erscheinen, sondern das geduldige "Auf-Lesen" von langen, zusammenhängenden Texten oder Büchern, das im besten Fall den Charakter eines "Flow" (Csikszentmihalyi) annimmt. Auch die Bibel lässt sich so lesen, allerdings nicht in einem Zug von vorne bis hinten, sondern langsam und beständig und wiederholt, so dass sich sie nach und nach den Lesenden als die von der Bibel erzählte Geschichte erschließt und sie je sich selbst in dieser Geschichte wiederfinden.


Das bezieht sich auf das Gebet, durch das Gott von einem fernen, anonymen und unbekannten "Es" zum "Du" wird. Wir treten ein in die Kommunikation mit Gott; wir rufen seinen Namen an, so wie er uns beim Namen ruft (wobei wir, nachdem im Judentum vom Gottesnamen kein Gebrauch gemacht wird, auch wir einfach nur "Gott" sagen, den wir im Namen Jesu anrufen). Für das Beten gibt es keine "Methode" oder Anleitung. Jede und jeder muss seine eigenen Erfahrungen sammeln. Es soll nicht verschwiegen werden, dass es Zeiten geben mag, die das Beten extrem erschweren oder gar unmöglich machen. Deswegen ist der Gedanke wichtig, dass gar nicht so sehr wir selbst es sind, die beten, vielmehr betet es in uns, "denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt, sondern der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen." Dass die Psalmen hier eine Schlüsselrolle spielen, muss hier nicht weiter entfaltet werden.


Das bezieht sich auf die Vergegenwärtigung der biblischen, bzw. der Christus-Geschichte im Gottesdienst, völlig unabhängig, ob er als Hausgottesdienst einer kleinen Gruppe, online, als Sonntagsgottesdienst in der Ortskirche oder als Abschlussversammlung eines Kirchentages oder wie auch immer gehalten wird. Dort geschieht, was diese biblischen Kernsätze als das zentrale Geschehen der Kirche beschreiben: "Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen." - "Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren." - "Dies ist mein Leib; dies ist der Neue Bund; tut dies zu meinem Gedächtnis (d. h. zu meiner Vergegenwärtigung)" - "Dein Name werde geheiligt" - "Gott erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden".


Das bezieht sich auf das Priestertum der Getauften, zu dem alle Getauften in der der Taufe berufen sind; denn nur dann können die Mitglieder der Kirche an ihr bauen, wenn sie selber Kirche sind und sie verantworten. Die Tauferinnerung - vielleicht verbunden mit einem hier aus theologischen Gründen gut angebrachten Segnungs- und/oder Salbungsritual - braucht einen viele zentraleren Platz im kirchlichen Geschehen, weil die Taufe und die damit verbundene Priesterweihe im evangelischen kirchlichen Geschehen viel zu leicht "vergessen" wird.


Das bezieht sich auf das Teilen des Glaubens miteinander und mit anderen, denn wer mit dem Glauben Erfahrungen macht (oder zuweilen auch keine), hat etwas zu erzählen. Der Glaube drängt danach, sich durch Erzählen und Zuhören, durch an sich teilhaben lassen und an anderen teilhaben auszubreiten und von Mensch zu Mensch weitergegeben zu werden.


3. Damit sind wir bei der "Mündigkeit" der Kirchenmitglieder, also ihre Bevollmächtigung und Berufung, für die Kirche, für die Menschen in ihr und um sie herum Verantwortung zu übernehmen. Dietrich Bonhoeffer war es, der die Kirche daran erinnert, die "Mündigkeit der Zeitgenossen" ernst zunehmen, in gleicher Weise wie Martin Luther selbst, der in der vielleicht genialsten seiner Schriften, wenn auch mit anderen Begriffen und Gedankenführungen, den Blick auf die "Freiheit eines Christenmenschen" gerichtet hat.


Das bezieht sich auf das einzelne Mitglied, das an seinem Ort und zu seiner Zeit Verantwortung für die Gemeinde und die Menschen vor Ort übernimmt und dabei seinem Gewissen folgt und nicht den Anweisungen irgendwelcher Kirchenoberen und selbst Initiative ergreift.


Das bezieht sich auf die Ortsgemeinde, die nur, wenn sie autonom ist und für sich selbst Verantwortung übernimmt, ihr Leben entfalten kann. Deswegen ist die (wenn auch schon seit vielen Jahrzehnten zu beobachtende) Entwicklung weg von der überschaubaren Ortsgemeinde hin zu einer unüberschaubaren Kirchenregion, die zwar "Gemeinde" genannt wird, aber in Wirklichkeit schon lange keine mehr ist, eine eindeutige Fehlentwicklung, die letztlich die Kirchenmitglieder zwangsläufig bevormunden muss und deren Mündigkeit eben nicht ermöglicht.


Das bezieht sich auch auf das Pfarramt - Pfarrerinnen und Pfarrer sind in den letzten Jahren zunehmend zu Funktionärinnen und Funktionären der Kirchenkreise oder der Landeskirche geworden. Von der "Freiheit des Pfarramtes" ist kaum noch die Rede, gerade aber diese ist es, die den besonderen Charakter des Pfarramtes und dessen Chancen kennzeichnet und unentbehrlich ist.


Vom Ernstnehmen der Mündigkeit des Zeitgenossen und der Freiheit eines Christenmenschen, der Autonomie der überschaubaren Ortsgemeinde und der Freiheit des Pfarramtes sind wir als Kirche weit weg. Wir haben uns längst zu einem religiösen Dienstleistungsunternehmen entwickelt, das mit ihren Mitgliedern wie mit Kunden umgeht, die Anspruch auf Dienstleistungen haben. Dabei soll nicht bestritten werden, dass die Kirche auch Dienstleisterin ist und dass sie gerade so für die passiven Mitglieder eher von Interesse ist und das etliche um dieser Dienstleistungen willen (noch) Kirchenmitglieder sind. Wer evangelisch ist, weil die Familie es immer war, weil die Freunde es sind, weil die Kleine getauft werden soll und der Partner es ist, ist, wie gesagt, herzlich willkommen. Dazu sind wir Volkskirche, dass wir die Grenze nach draußen nicht scharf ziehen, sondern sie fließend und durchlässig halten und es ausdrücklich zulassen, dass Menschen mal eher draußen und dann wieder mal drinnen sind, dass sie mal von der Kirche Gebrauch machen - als Dienstleistung eben - wenn sie gerade in einer Lebensphase sind, wo sie das tatsächlich brauchen und dann wieder über lange Strecken keinen Draht mehr zur Kirche haben. Das darf und soll so sein, und dass ist auch der Weg, wie sich die Kirche mit der sie umgebenden Gesellschaft verbindet.


Eine Mitglieder-Orientierung ist aber nur möglich, wenn diese sich auf die aktiven Mitglieder bezieht. Wenn diese gelingt, wird eine Orientierung an den passiven Mitgliedern wie von selbst mit gesetzt sein. Denn die Aktiven werden - sonst wären sie nicht aktiv - sich nicht nach außen hin abschließen. Sie werden die Achtsamkeit für ihre "Nächsten" entwickeln, für die Menschen, die sie umgeben und mit denen sie im Alltag verbunden sind. Das werden sie aber gewiss nicht tun, um sie als Kirchenmitglieder zu halten oder zu gewinnen, sondern in jener Absichtslosigkeit, wie sie nach Jesus selbst ein Kennzeichen der Nächstenliebe ist.

Es leuchtet sofort ein, dass eine Mitglieder-Orientierung in diesem Sinne nicht die einzige, aber doch die zentrale Aufgabe des Pfarramtes ist. Dafür sind wir Pfarrerinnen und Pfarrerinnen, um die Mitglieder-Orientierung zu gewährleisten. Es leuchtet aber ebenso ein, dass dies nie anders war und dass dem Pfarramt schon immer die Verantwortung für die Mitglieder-Orientierung oblag. Die Kirchenleitung hat also hier nichts neues erfunden, sondern das uralte, ursprüngliche Anliegen einer Ortsgemeinde in den Blickpunkt gestellt. Die Frage ist, wie sie am besten wahrgenommen und ausgestaltet wird und dafür haben wir hier eine Idee angedeutet. Die Kirchenleitung und die Kirchenkreise tragen die Verantwortung dafür, dass Pfarrerinnen und Pfarrer dafür tatsächlich von anderen Verpflichtungen freigestellt werden. In diesem Sinne ist der Evangelische Pfarrverein im Rheinland sehr denkbar für diese Initiative der Kirchenleitung und wird sie unterstützen, indem er die Rolle des Pfarramtes in diesem Zusammenhang reflektiert und weiterentwickelt.+