60 Jahre später...

Ein Dialog per Email mit einer Rückschau auf fast sechs Jahrzehnte

Martin Evang, Stephan Sticherling

 

Der eine ist schon im Ruhestand, der andere steht kurz davor. Vor fast 60 Jahren – 1963 – haben sie im ersten Schuljahr über Eck am selben Tisch gesessen. Seitdem sind sich der rheinische Pfarrer aus Düsseldorf und der Oberkirchenrat bei der UEK aus Berlin in größeren oder kleineren Abständen immer wieder begegnet, zuletzt bei der mit zw6eijähriger Verspätung nachgeholten Gold-Konfirmation im letzten Sommer in ihrer Heimatgemeinde. Da entstand die Idee, in Gestalt des folgenden Dialoges eine kleine Rückschau auf die Jahrzehnte ihres kirchlichen Engagements zu werfen.

 

Stephan Sticherling: Lieber Martin, in dem aus romanischer Zeit stammenden Kirchturm der Waldbröler evangelischen Kirche befindet sich ein etwa quadratischer Raum unter einem Kreuzgewölbe, zu dem man über eine enge Treppe gelangt. Von Montag bis Samstag, immer um 18.35 Uhr (also fünf Minuten nach Ladenschluss), war das unser Treffpunkt. Wir versammelten uns dort zu einem 20- bis 30-minütigen Abendgebet, das von uns reihum nach einer einfachen Ordnung gestaltet wurde, samstags mit Abendmahl. Natürlich war dies auch eine Gelegenheit, uns zu treffen. Zwischen fünf und fünfzehn waren eigentlich immer da, manchmal mögen es auch mehr gewesen sein. Unsere Gemeinde war stark von der oberbergischen Erweckung geprägt (und ich erinnere mich noch an deinen Kommentar nach einem Gebetsabend, zu dem wir hingeschickt wurden und der sich endlos in die Länge gezogen hatte: „Herr, lehre uns kurz beten. Amen“), aber durch unseren Jugendleiter Manfred Ohaus und den Hermannsburger Evangelisten Eckard Krause war die die Jugendarbeit eher lutherisch-pietistisch geprägt. Ich vermute, dass diese intensive Phase der Waldbröler Jugendarbeit auch für dich (wie für mich) eine prägende Erfahrung war. Einige der damaligen Jugendlichen sind später Pfarrerin oder Pfarrer geworden, auch wir beide. Was aber hat dich genau bewogen, Theologie zu studieren und Pfarrer werden zu wollen? Ist deine Entscheidung dazu in dieser Zeit gefallen?

 

Martin Evang: Ja, die Kapellenzeit mit den abendlichen Andachten hat auch mich stark geprägt. Von Kind auf hatten unsere Eltern uns mit in die Sonntagsgottesdienste genommen, die in Waldbröl liturgisch sorgfältig gestaltet waren und in denen anspruchsvoll gepredigt wurde. Die Andachten in der Kapelle, die ja auch kurze Auslegungen zu den biblischen Texten eines von Manfred Ohaus erstellten Leseplans enthielten, haben den latenten Berufswunsch “Pfarrer” verstärkt. Zwar ist von meinem durchaus pastorenkritischen Vater das Wort überliefert: “Meine Kinder dürfen alles studieren, nur nicht Theologie”, aber er hat meinen Berufswunsch trotzdem unterstützt, da er merkte, dass ich es ernst meinte. Wie stark mich das gottesdienstliche Leben der Waldbröler Jugendzeit (einschließlich des Steckens der Liednummern und des Wechselns der Paramente) geprägt hat, ist mir später bewusst geworden, als ich in der rheinischen Kirche in der Gottesdienstberatung tätig war und in der UEK Referent für Gottesdienst wurde.

 

St. St.: Auf den Gottesdienst kommen wir noch zu sprechen. Vorher aber zu Rudolf Bultmann: Über ihn hast du in Bonn promoviert, bevor du Pfarrer in Düsseldorf warst. Das ist deswegen überraschend, weil er bei uns Waldbrölern eher in die Kategorie „Feindbild“ gehörte. Die Behauptung, dass Jesus „nur“ ins Kerygma aufgestanden sein soll, seine existenziale Interpretation, sein Entmythologisierungsprogramm waren uns damals suspekt. Was hat dich zur Beschäftigung mit ihm veranlasst? Auf der anderen Seite habe ich manchmal den Eindruck, dass die Zeit ein wenig über Bultmann hinweggegangen ist. Schleiermacher, Bonhoeffer oder Barth stehen noch in reichem Maß als Zitaten-Spender zur Verfügung, aber Bultmann kommt in den zeitgenössischen Diskursen kaum noch vor. Liegt das vielleicht daran, dass wir inzwischen stillschweigend genau das tun, was Bultmann einst gefordert hat: Wir „entmythologisieren“ mit großer Selbstverständlichkeit, wenn wir unsere Predigten schreiben, und niemand merkt es? Hat sich Bultmann in irgendeiner Weise auf deine spätere Pfarrer-Existenz niedergeschlagen?

 

M. E.: Ja, Stephan, ich bin überzeugt, dass die Beschäftigung mit Rudolf Bultmann sich stark ausgewirkt hat auf die Art, in der ich meine Arbeit als Pfarrer verstanden und ausgeübt habe. Wem daran liegt, dass die christliche Botschaft und der christliche Glaube unter den Bedingungen der Gegenwart einleuchten, der kommt um die Probleme, die Rudolf Bultmann thematisiert hat, und um einen reflektierten Umgang damit nicht herum – auch wenn dies gar nicht in ausdrücklicher Beschäftigung mit Bultmann geschieht. Bultmann war ein frommer lutherischer Theologe, durchaus auch mit pietistischen Zügen, der auf intellektueller Redlichkeit bestand. Insofern war er eine echte Option für uns Waldbröler. Im Studium habe ich es übrigens auch mit Paul Tillich versucht, dessen “Systematische Theologie” ich im dritten Semester verschlungen habe. In der Tübinger Zeit war es vor allem Eberhard Jüngel, der mich in seinen Vorlesungen und Seminaren zu Luther, Kirkegaard und Barth besonders geprägt hat. Als “-ianer” (Barthianer, Bultmannianer oder auch Lutheraner) habe ich mich selbst aber nie verstanden. Vielleicht hat mich das auch beruflich für die UEK empfohlen? - Wo hast Du eigentlich studiert, Stephan, und wo fühlst Du Dich theologisch zu Hause?

 

St. St.: Ich hatte mir fest vorgenommen, als Lutheraner durch die Welt zu gehen. Deswegen bin ich im Studium auch von Göttingen nach Erlangen gegangen und wollte lieber Manfred Seitz und hören als Hans Joachim Kraus. In der Endphase meines Studiums hat mich die Diskussion um Uroffenbarung und Anknüpfungspunkt, etwa zwischen Karl Barth und Paul Althaus hin und her gerissen. Manfred Seitz und dessen damaliger Assistent Michael Herbst, nach dem Studium dann mein Vikarsmentor Hermann Kotthaus und Klaus Teschner haben mich zunächst auf die Schiene des missionarischen Gemeindeaufbaus gesetzt, mit dem ich aber dann in meiner ersten Gemeinde in Düsseldorf gescheitert bin, aber das ist eine lange Geschichte, die ich hier nicht erzählen kann. Was mir aber geblieben ist, das ist die Frage, wie der Glaube Gestalt annimmt, wie er sich verleiblicht und zur erfahrbaren, erlebbaren Wirklichkeit wird. Deswegen war die mich am meisten faszinierende theologische Persönlichkeit Manfred Josuttis mit seinem für mich ungewohnten phänomenologischen Blick auf Kirche und Christentum. Um Paul Tillich habe ich mich wenig gekümmert, was ich heute ein klein wenig bedaure. Und was den Lutheraner in mir angeht, mit dem bin ich dann auch nicht sehr weit gekommen. Gerade Autoren wir Eberhard Jüngel oder Wilfried Härle (dessen Dogmatik ich gerne konsultiere) machen deutlich, dass der Gegensatz Luthertum – Barthianismus immer weniger interessant ist.

 

Aber heute sind es in der Tat nicht die -tümer und -ianismen, die die Gemüter wie damals erhitzen, sondern etwa die Frage, um es im Bild zu formulieren, wie weit der nächste Kirchturm weg sein darf. Darüber und über den drohenden Mentalitätswandel der „Kirche der Freiheit“ hatten wir uns ja gelegentlich per Facebook in die Wolle gekriegt – du warst halt Teil des von uns liebevoll gepflegten Feindbildes EKD (wobei wir uns natürlich nicht die Mühe gemacht haben, zwischen EKD und UEK zu unterscheiden…). Nun, diese Diskussion müssen wir hier nicht fortsetzen. Aber eine Frage habe ich in diesem Zusammenhang doch noch. Als du noch die rheinische Beratungsstelle für Gottesdienst und Kirchenmusik in Wuppertal geleitet hast, hast du dich mal stark gemacht, im Gottesdienst auf Qualität zu achten. Ich habe selbst an einer Fortbildung im damaligen Zentrum für Qualitätsentwicklung im Gottesdienst in Hildesheim teilgenommen, die ich sehr anregend fand. Dennoch die Frage: Ist “Qualität” wirklich das entscheidende Merkmal eines “schönen Gottesdienstes” (Ps 27,4)? Oder verleitet dieser Begriff nicht dazu, den Gottesdienst als Sache von Profis anzusehen, die den “Kunden”, die zum Gottesdienst kommen sollen, was bieten müssen? Wird dadurch die Ausblendung des Priestertums der Getauften nicht verfestigt?

 

M. E.: Das Priestertum aller Getauften bedeutet nicht das Prediger- und Kantoren-, Liturgen- und Lektorentum aller Getauften. Dies steht zwar scheinbar in Spannung mit dem 1. maßgeblichen Kriterium im Evangelischen Gottesdienstbuch: “Der Gottesdienst wird unter der Verantwortung und Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert”, aber diese Spannung muss und kann fruchtbar gemacht werden – so dass vor Ort (bzw. "regiolokal”) geschaut wird: Wie können wir das hier, unter unseren besonderen, sich auch verändernden Bedingungen, so realisieren, dass die Gemeinde in ihrer Kirche – und die Gemeinden in ihren Kirchen – öffentliche Gottesdienste feiern kann/können, die den Glauben wecken und vertiefen, den Zusammenhalt stärken und zum “Gottesdienst im Alltag der Welt” motivieren und orientieren? Für sehr viele Menschen bedeutet “Beteiligung” nicht, selbst eigenständig etwas tun zu müssen, sondern gut angeleitet Lieder mitzusingen, ins Gebet einzustimmen, eine ansprechende, gedanklich solide, das Gewissen erreichende Predigt zu hören. Für diese Aufgaben müssen die, die Begabung und Neigung mitbringen, gut ausgebildet und fortgebildet werden – ob dieser Dienst nun beruflich oder ehrenamtlich ausgeübt wird. So verstehe ich “gottesdienstliche Qualität” – und dazu gehört auch eine gottesdienstliche “Infrastruktur”, sie sich verändernden Rahmenbedingungen anpasst. Wie mühsam das sein kann, erlebe ich an meinem neuen Wohnort in der Prignitz, wo es viele Dörfer und Kirchen, aber relativ wenige Christen- und Pfarrmenschen gibt. Ich freue mich, in meinem Ruhestand mit den Menschen vor Ort mitzuüberlegen, wie es hier gottesdienstlich weitergeht, und erlebe das überhaupt nicht als einen Bruch mit meinen “gottesdienst-strategischen" Zuständigkeiten in EKiR und EKD/UEK, sondern als Anwendungsfall. Apropos “Kunde”: Ist es nicht toll, wenn Menschen einen Gottesdienst verlassen und sagen: So möchte ich eigentlich auch im Alltags-, Berufs- und Geschäftsleben der Woche wahrgenommen, angesprochen und behandelt werden! Machen wir also Orientierungsbegriffe wie “Kunde”, “Qualität” usw. nicht zu Kampfbegriffen!

 

St. St.: Was uns im Pfarrverein derzeit beschäftigt, ist die Frage, ob wir noch Volkskirche sind. Sie stellt sich, seit sie auf der Landessynode in dem landeskirchlichen Impuls-Papier "Lobbyistin der GOTT-Offenheit" (2021) angeschnitten wurde: Wir sind keine Mehrheitskirche mehr, deswegen können wir uns auch nicht mehr als Volkskirche ansehen. Diese Diskussion haben wir aufgegriffen und planen im nächsten Jahr auch eine eigene Veröffentlichung dazu. Deswegen würde ich gerne von dir wissen, welchen Blick du auf diese Entwicklung hast.

 

M. E.: Ich habe die Debatten im Rheinland nicht näher verfolgt und möchte mich deshalb nur zurückhaltend äußern. Das Papier des Theologischen Ausschusses “Lobbyistin der Gottoffenheit” enthält m. E. eine kluge Analyse von Veränderungen, die schon eingetreten sind und sich vermutlich noch verstärken werden. Es wagt mutige Antworten auf die Fragen, die sich für kirchliches Handeln stellen. Ich plädiere aber dafür, dort, wo die Menschen leben, arbeiten und feiern, die Möglichkeiten gemeinsamen geistlichen Lebens in Begegnung und Gottesdienst zu erhalten bzw. neu zu entwickeln. Darin wirkt sich sicherlich die geistliche Prägung aus, die wir beide in unserer Jugend empfangen haben. Ich sage das aber auch von den Erfahrungen her, die ich als Mitglied vieler Gemeinden gemacht habe (denn auch, wenn man beruflich eine kreis-, landes- oder gesamtkirchliche Zuständigkeit hat, bleibt man ja Mitglied einer konkreten Gemeinde).

 

St. St.: Am nachhaltigsten hast du wahrscheinlich durch deine Mitarbeit – zuletzt geschäftsführend – an der Perikopenrevision und der Erstellung der „Ordnung der gottesdienstlichen Texte und Lieder (OGTL) auf das kirchliche Leben eingewirkt. Wir sind jetzt im 5. Jahr dieser neuen Ordnung und gehen inzwischen damit so selbstverständlich um, als hätte es sie immer schon gegeben. Nur manchmal gibt's eine kleine Überraschung wie jetzt am 2. Adventssonntag mit dem Text aus Hohelied 2. Vielleicht kannst du was dazu sagen, ob es eine Resonanz und erste Auswertungen gibt?

 

M. E.: Zum Stichwort “Perikopen-revision” möchte ich zuerst sagen, dass ich die Mitarbeit daran als eine der schönsten Aufgaben meiner ganzen beruflichen Tätigkeit erlebt habe. Gerade hier hat der Same einer Jugendarbeit, in der die Beschäftigung mit der Bibel im Mittelpunkt stand, für mich persönlich reiche Frucht getragen. Und jedes Mal, wenn in Gottesdiensten aus dem Lektionar oder dem Perikopenbuch vorgelesen wird, verspüre ich Dankbarkeit, dass ich da mittun konnte. Die Selbstverständlichkeit, mit der die neue “Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder” - aber bitte: in Freiheit! - gebraucht wird, ist ja auch darauf zurückzuführen, dass es sich um eine behutsame Revision unter Wahrung bisheriger Routinen handelt. Eine eingehende Auswertung der neuen Ordnung kenne ich nicht. Aber ich nehme wahr, dass die erheblich vermehrten Texte aus dem Alten Testament als Bereicherung und Herausforderung zugleich wahr- und angenommen werden. An der Erarbeitung eines neuen Gesangbuchs nehme ich anfänglich ebenfalls teil; hier wird mein Nachfolger bei der UEK mich aber demnächst ablösen. Allerdings möchte ich - froh, dass die “Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch” 2023 zum Abschluss kommt – auch noch an einer zeitgemäßen, d.h. digital angelegten, Fortschreibung mitwirken.

 

St. St.: Zum Schluss noch ein persönliche Frage: Mit deinem Eintritt in den Ruhestand wirst du ins Kloster ziehen und mutmaßlich der erste Oberkirchenrat sein, der mit einer Äbtissin verheiratet ist. Wie muss man sich das vorstellen?

 

M. E.: Ja, zum Jahreswechsel trete ich in den Ruhestand. Für die UEK werde ich noch mit einem kleinen Dienstauftrag für zwei Jahre tätig sein – und das von Heiligengrabe in der Prignitz aus. Heiligengrabe hat ein aus dem Mittelalter stammendes, in der Reformationszeit evangelisch gewordenes Frauenkloster, in dem meine Frau vor einigen Monaten das Amt der Äbtissin angetreten hat. Die 34. Äbtissin seit 1278 ist die erste, die einen Ehemann mitgebracht hat, und so ist die Rolle des “Abtsgemahls” (wie ich diese Nicht-Funktion augenzwinkernd nenne) noch undefiniert und gestaltungsoffen. Ich freue mich auf die kommende Zeit!

 

· Dr. Martin Evang war von 1993-2005 Gemeindepfarrer in Düsseldorf. Von 2005-2013hat er die Arbeitsstelle für Gottesdienst der EKiR geleitet und ist seitdem Oberkirchenrat bei der UEK. Er hat, zuletzt geschäftsführend, an der Einführung der Ordnung der gottesdienstlichen Texte und Lieder mitgewirkt, die seit 2018 im Gebrauch ist. 1990 erhielt er den Hanns-Lilje-Preis der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

 

· Stephan Sticherling war u. a. Gemeindepfarrer in Düsseldorf und am Altenberger Dom und ist seit 2021 im Ruhestand.