"Heiliger Geist, nun stärke mich"

Über "Unvergessene Wuppertaler und obergische Glaubensboten" in zwölf Personenporträts von Matthias Hilbert

Friedhelm Maurer

 

Mit zwölf Personenporträts zeichnet Matthias Hilbert ein Bild der neupietistischen Erweckungsbewegung, des missionarischen und sozial-diakonischen Engagements der Kirche und der freikirchlichen Gemeindebewegung im 19. und 20. Jahrhundert: „Unvergessene Wuppertaler und oberbergische Glaubensboten“ - so der Titel seines Buches, das 2022 in Dillenburg erschienen ist (346 Seiten, 19,90 ). Matthias Hilbert, 1950 geboren, Lehrer im Ruhestand, lebt heute als Autor in Gladbeck. Ein wirklich lesenswertes Buch! Es werden nicht nur kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Informationen präsentiert, vielfältig belegt mit Zitaten von Zeitzeugen, sondern Matthias Hilbert versteht es auch, kurzweilig zu erzählen. Die Persönlichkeiten, die von ihm vorgestellt werden, bieten dazu reichlich Stoff aufgrund ihrer einmaligen Charaktere. Dabei tauchen viele einzelne Namen auf, ohne dass ihnen ein ganzes Porträt gewidmet wird, wie z.B. jener Pfarrer Ernst Hermann Thümmel aus Nümbrecht, ein Bußprediger, dessen Botschaft, derb und volkstümlich ausgerichtet, kompromisslos war darin, die Sünden offen beim Namen zu nennen. Einzelne Gemeindeglieder waren über seine Art, die Trunksucht zu bekämpfen, so aufgebracht, dass sie ihm bei Dunkelheit in einem Hinterhalt auflauerten, um ihn eine Tracht Prügel zu verabreichen. „Doch der kräftig gebaute Mann schwang sogleich seinen Knotenstock und schrie mit lauter Stimme: ‚Heiliger Geist, nun stärke mich!‘ - und die erschrockenen Angreifer machten, dass sie davonkamen.“ (S.187).

Diese Anekdote mag Lust auf die Lektüre machen! Doch das Buch wird man ohnehin nicht aus der Hand legen, sobald man das Vorwort gelesen hat und mit dem ersten Porträt, der Lebens- und Wirkungsgeschichte von Gottfried Daniel Krummacher (1774-1834) Bekanntschaft gemacht hat. Er wirkte als Erweckungsprediger in Elberfeld und hat dazu beigetragen, dass die Erweckung auch im Bergischen Land zum Durchbruch kam.

 

Sein Neffe, Friedrich Wilhelm Krummacher (1796 – 1868) galt unter den vielen bedeutenden Pastoren im Wuppertal des 19.Jahrhunderts als „Starprediger“. Die Kirche war nicht nur überfüllt, es wurden auch Fenster ausgehängt, damit die draußen Stehenden die Predigt auch hören konnten. Gleichwohl gab es auch Kritiker, die ihn bei der Koblenzer Provinzialkirchenbehörde anzeigten, so dass ein Gutachten erstellt wurde, das ihn rehabilitierte. Auch sah er sich dem Spott eines Friedrich Engels ausgesetzt, des Fabrikantensohnes aus pietistischem Haus, dem die individualistische kirchliche Armenseelsorge angesichts der frühkapitalistischen Missstände zu wenig war. Krummacher zog als Pietist gegen den Rationalismus in der Kirche zu Felde, hing einem biblischen Realismus an.

 

1847 wurde er nach 22 Jahren Wirken im Wuppertal vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin berufen, 1853 übernahm er auf dessen Wunsch die Hofpredigerstelle an der königlichen Hof-und Garnisonskirche in Potsdam.

Nicht nur Pfarrer-Biographien werden erzählt, sondern auch das segensreiche Wirken von Laien. So erzählt Hilbert das Leben von Johanna Faust (1825 – 1903), die als „Tante Hanna“ aufgrund ihres außerordentlichen karitativen und missionarischen Wirkens gerade unter den armen Menschen im sogenannten „Elendstal“ in die Geschichte einging. Schon vor 150 Jahren richtete sie so etwas wie eine „Lebensmitteltafel“ und einen „Secondhand-Laden“ für Bedürftige ein. Sie kümmerte sich um weibliche Strafgefangene und um Prostituierte. Sie war keine Sozialreformerin, wohl aber eine couragierte und ganz praktisch-nüchterne Helferin, angetrieben von ihrem Glauben an Jesus.

 

Ausführlich wird auch von Pfarrer Paul Humburg (1878 – 1945) erzählt. Maßstab für sein Predigen war, ob die Predigten auch für Menschen passen und tauglich sind, die im Sterben liegen, d.h. ob sie bezeugen, „dass es eine Herrlichkeit gibt und dass es sich lohnt“. Dieses Wort seiner Mutter auf ihrem Sterbelager wurde ihm für seine Predigtarbeit geradezu zum Testament (S.92).

 

Paul Humburg positionierte sich klar und entschieden im Kirchenkampf gegen die Irrlehren der Deutschen Christen und gegen ihre Versuche, die Kirche im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie gleichzuschalten. 1934 wurde er zum Präses der Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche im Rheinland gewählt und ein paar Monate später zum reformierten Mitglied der in Berlin tagenden „Vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche“. Sehr gut an dem Buch von Matthias Hilbert ist, dass der Autor nicht mit Originalzitaten spart: So wird ausführlich die „Knospenfrevelpredigt“ Paul Humburgs samt ihren Folgen für ihn dokumentiert (S. 99-103). Von der NS-Presse wurde er als „Volksschädling“ bezeichnet. Er musste Hausdurchsuchungen der Gestapo, Verhöre und Verhaftungen über sich ergehen lassen. Sein Leitspruch war: „Teneo, quia teneor“ – „Ich halte fest, weil ich gehalten werde“ (S.107).

 

Karl Immer (1888-1944), dem Vater von Lic. Theol. Karl Immer, der von 1971-1981 Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland war, wird auch ein ganzes Kapitel gewidmet. Nach Auskunft eines Zeitzeugen habe er „eindrücklich, herbe und praktisch, aber nie überschwänglich oder drängend“ gepredigt (S.118). Er war von Anfang entschiedener Gegner des Nationalsozialismus und zeigte klare Kante gegen die DC. Im Herbst 1933 gründete er den „Coetus reformierter Prediger“, dem sich bald auch lutherische und unierte Pfarrer und Presbyter anschlossen. Es war ein Tarnname, denn es durfte kein neuer Verein gegründet werden, der nicht ein NS-Verein war. Er organisierte die „Unter dem Wort“- Gemeindetage zur Aufklärung und Orientierung, zur Glaubensstärkung und zum Trost der Gemeindeglieder. Seine Aussage, mit der Eingliederung der Ev. Jugendwerke in die Hitlerjugend, die der „Reichsbischof“ Ludwig Müller zusammen mit dem HJ-Führer Baldur von Schirach betrieb, sei die Kirche „zur Hure des Staates“ geworden, brachte ihm eine Anzeige beim Konsistorium in Koblenz ein, der obersten Kirchenbehörde im Rheinland, die ihn daraufhin in den einstweiligen Ruhestand versetzte. Die Gemeinde aber stand zu ihrem Seelsorger. Auf Vorschlag von Karl Immer fand die erste der vier Bekenntnissynoden der Bekennenden Kirche vom 29.-31.5.1934 in Barmen-Gemarke statt. Es gab Aufmärsche von SA und HJ vor Immers Haus, er wurde in Sprechchören als „Volksverräter“ gebrandmarkt. Um dem Pöbel zu entrinnen, musste er einige Tage nach Bethel ziehen. 1937 erhielt er Redeverbot für das ganze Deutsche Reich. Nach einer Verhaftung durch die Gestapo erlitt er im Gefängnis einen Nervenzusammenbruch und einen Schlaganfall. Nach der Reichspogromnacht 1938 hielt er einen Bußgottesdienst: Das Wort Gottes sei verbrannt worden, wer das jüdische Volk antaste, taste Gottes Augapfel an.

 

Als Karl Immer 1944 starb, war Johannes Rau, der nicht weit von ihm wohnte und in ihm einen zweiten Vater sah, gerade 13 Jahre alt - Johannes Rau, der spätere Bundespräsident.

 

Damit kommt Matthias Hilbert zu Ewald Rau (1898 – 1953), dem Vater von Johannes Rau. Der arbeitete als Vereinssekretär beim „Blauen Kreuz“, war eigentlich Kaufmann von Beruf, gab jedoch sein Handelsgeschäft auf, um als „Reiseprediger“ und schließlich in den letzten Jahren seines Lebens als freier Evangelist tätig zu sein. 1953 kam er bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben. Auf seinem Grabstein steht: „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth“. Johannes Rau, der eine Lehre zum Verlagsbuchhändler machte, bekannte später, dass ihm in seinem Elternhaus die „Mischung aus lebendiger Volkskirche und pietistischer, freikirchlicher Frömmigkeit ein Glücksfall gewesen“ sei (S.153). „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ – dieses Psalmwort hing im Haus der Eltern Ewald und Helene Rau an der Wand.

 

Im zweiten Teil des Buches werden drei oberbergische Landpfarrer und schließlich noch drei freikirchliche Gemeindegründer vorgestellt.

 

Alfred Christlieb (1866 – 1934) hattte schon fromme Vorfahren. Sein Vater Theodor Christlieb, seit 1868 Professor der Praktischen Theologie in Bonn, beteiligte sich 1880 an der Gründung der Ev. Allianz und eröffnete 1886 das Johanneum, eine Evangelistenschule für Nichttheologen in Bonn, die später nach Wuppertal umzog. Sein Sohn setzte seine Arbeit, die Förderung des Neupietismus, fort und machte die Gemeinde Heidberg zu einem weiteren Erweckungszentrum im Oberbergischen. Auch hier gab es Widerstände und Anklageschriften an das Konsistorium in Koblenz. Im abgeschiedenen Heidberg empfing er viele Gäste im neugebauten Pfarrhaus. Sein väterlicher Freund, der Evangelist Elias Schrenk, riet dem unverheiratet bleibenden Christlieb: „Bleibe du Bischof von Heidberg!“ (S.164) So blieb er dort und trat keine andere Stelle an, ein Geistlicher, der Menschen mit seinem Beten in die Gegenwart Gottes hinein zog. Als er 1934 starb, bekannte Karl Immer: „In seiner Nähe wurde es uns leichter, an Gott zu glauben, denn er war ein Mensch, der an die Macht und Wahrheit des Wortes Gottes glaubte.“ (S.173)

 

Jakob Gerhard Engels (1826 – 1897) war Pfarrer in siebter Generationenfolge.

 

Er sympathisierte zunächst mit der Revolution von 1848, fand dann aber in der Theologie als einer „Oase mitten in der Wüste der Herrschsucht und des Egoismus unserer Zeit Erquickung und Ruhe“ (S.183). Nümbrecht wurde seine erste und letzte Pfarrstelle, eine Landgemeinde mit 70 verstreut liegenden Höfen. An der Agger dominierten damals noch Pfarrer mit rationalistischer Verkündigung und moralischer Tugendlehre, d.h. es gab mehr ein Vernunftglaube als eine persönliche, lebendige Glaubensbeziehung zu Jesus Christus. Jakob Engels wurde 1851 Nachfolger des eingangs zitierten Ernst Hermann Thümmel. Als 25-Jähriger versprach er in seiner programmatischen Antrittspredigt der Gemeinde, ihr mehr als Lehre und Moral zu predigen, nämlich ihr die Person des Heilandes zu bringen: „Nein, fürchtet nicht, dass der Prediger sich auspredigt, wenn er sich am Worte Gottes hält!“ (S.190). Was Pfarrer in der damaligen Zeit leisteten, mögen diese Zahlen verdeutlichen: Der Gemeinde gehörten ca. 6000 Personen an. 1852, in seinem ersten Amtsjahr, standen 180 Taufen, 135 Beerdigungen und 29 Trauungen an. In den nächsten Jahren wurden die Dienste nicht weniger, denn es kamen immer mehr Bibelstunden und Versammlungen in den einzelnen Höfen dazu. Bei Wind und Wetter war Engels vor allem zu Fuß unterwegs. Er gründete 12 Sonntagsschulen in der Nümbrechter Gemeinde. Die 1500 – 1700 Menschen fassende Schlosskirche war oft für die Gottesdienste zu klein. Jakob Engels blieb demütig, mahnte zur Nüchternheit, so dass die Erweckung kein Strohfeuer war, sondern eine anhaltende Glaubensbewegung blieb. Nach 45 Jahren im Dienst in Nümbrecht starb er 1897 nach einer Presbyteriumssitzung am Nachmittag und einer „Besprechstunde“ über den Katechismus im Waisenhaussaal am Abend (S.203). Nach seinem Tod fand man unter seinen Papieren einen Zettel, auf dem er 30 Leitsätze für ein bewusstes christliches Leben notiert hatte.

 

Otto Funcke (1836 – 1910) wollte eigentlich Arzt werden wie sein Vater, einem energischen und geradlinigem Mann, der Heuchelei und Frömmelei verachtete, sich aber durch praktische Nächstenliebe auszeichnete. Otto war ein schwächliches und krankheitsanfälliges Kind, für das seine Mutter Wilhelmina, eine sehr fromme Frau, viel Zeit aufbrachte. Sie betete mit ihm, sang mit ihm christliche Lieder und erzählte ihm die biblischen Geschichten. Als er seinem Vater bei einer Amputation einen Helferdienst leisten sollte, fiel er in Ohnmacht, so dass klar war, dass er sich für den Arztberuf nicht eignete. Seine Mutter glaubte an seine Berufung zum Pfarrer. Das Theologiestudium nahm er in Halle auf und wechselte dann nach Tübingen, wo er in dem frommen Professor Johann Tobias Beck bei seiner Wahrheitssuche den ihn verstehenden und ihn fördernden Seelsorger fand. Als er zu Christi Himmelfahrt in einem Gottesdienst in der Nähe von Tübingen seine erste Predigt hielt, ereignete sich das Wunder: Der schmalbrüstige und bislang stotternde Student stotterte nicht ein einziges Mal beim Predigen! Als Landpfarrer in der kleinen Gemeinde Holpe im Landkreis Waldbröl entfachte er dann eine Erweckung, was umso erstaunlicher war, als er sich nach Auskunft seines dortigen Superintendenten doch in einer „aufgeklärten Synode“ befand. Der Superintendent ermahnte ihn noch, er müsse das „Wupperwasser“, das er – wie er gehört habe - zu viel getrunken habe, schnell wieder loswerden, dass er in diese Gemeinde und in diesen Kirchenkreis passe. Otto Funcke war dreimal verheiratet. Die erste Frau starb nach nur neun Monaten glücklicher Ehe bei der Geburt des ersten Kindes, die zweite Frau starb an Schwindsucht. Auch sein erstes Kind aus erster Ehe starb früh. Nach dessen Tod heiratete er ein drittes Mal und bekam mit dieser Frau noch 2 Söhne und 5 Töchter. Anrührend sind in dem Personenporträt Otto Funcke die einzelnen Geschichten des seelsorglichen Beistandes den Pfarrer und Gemeinde sich gegenseitig schenkten.

Aus Platzgründen kann in dieser Rezension nicht mehr detailliert eingegangen werden auf die drei freikirchlichen Gemeindegründer:

 

Carl Brockhaus (1822 – 1899), Hermann Heinrich Grafe (1818 – 1869) und Julius Köbner (1806 – 1884). In diesen Porträts kann man etwas erfahren über die „Brüderbewegung“ als Gegenmodell zu einer organisierten Kirche, über den „Darbysmus“ und die Aufspaltung in „Open Brethren“ („Offene Brüder“) und „Exclusive Brethren“ („sich abschließende Brüder“), über Unterschiede im Verständnis von Bekehrung und Taufe, Rechtfertigung und Heiligung. Die Ablehnung von Ämterhierarchie, das Streben nach Exklusivität bei der Feier des Abendmahls und nicht zuletzt die Frage, ob man sich noch innerhalb der Landeskirche verstand oder sie doch ganz grundsätzlich ablehnte, führten zu immer neuen Konflikten und Zerwürfnissen innerhalb der neu entstandenen Bewegungen. Die Revolution 1848/49 rief große Ängste im Bürgertum hervor. Auch im Wuppertal gab es Aufstände und Ausschreitungen. Der 1850 überkonfessionell gegründete Ev. Brüderverein entstand aus der Überzeugung, die nicht mehr an Gott glaubenden Menschen evangelisieren zu müssen. Ob das innerhalb der kirchlichen Strukturen geleistet werden könne, war die große Frage. Erst nach der Revolution von 1848/49 war es in Deutschland verfassungsmäßig möglich, Freikirchen zu gründen. 1852 gründete Julius Köbner mit sechs weiteren „gläubig getauften“ Männern die „Baptisten-Gemeinde zu Barmen und Elberfeld“, Hermann Heinrich Grafe sondierte zunächst noch, ob er sich nicht dieser Baptistengemeinde anschließen sollte bzw. ob sie ihn als Kindgetauften, der sich nicht noch einmal taufen lassen wolle, aufzunehmen bereit sei. Doch dazu kam es dann nicht aufgrund mehrerer Gründe, die im Buch von Matthias Hilbert auch dokumentiert werden. Es kam vielmehr 1854 zur Gründung einer eigenen freikirchlichen Gemeinde in Elberfeld-Barmen durch den Wuppertaler Kaufmann Hermann Heinrich Grafe, die sich an der Verfassung und den Ordnungen der „Église evangélique libre“ in Genf orientierte.

 

Noch einmal: eine kenntnisreich geschriebenes, ein lesenswertes Buch – gerade für Pfarrerinnen und Pfarrer.