Die Tiefe ist der Ort der Gnade

Zum Gedenken an Dietrich Rössler (1927-2021)

Reinhard Schmid-Rost

 

„Die Tiefe ist der Ort des Menschen“, so beginnt Dietrich Rössler seine Auslegung des 130. Psalms in einem akademischen Gottesdienst in der Tübinger Stiftskirche in den 1970er Jahren, nachzulesen in der Predigtsammlung „Vergewisserung“ (1979, 127-1329). Und er reiht in dieser Predigt eine tiefe Einsicht über die Existenz des Menschen an die andere, eine schier unerschöpfliche Fülle, bis er schließlich bei der Einsicht endet: Die Tiefe ist der Ort der Gnade, denn nur in den Tiefen und Untiefen seines Lebens kann der Mensch erkennen, dass er auf Gnade angewiesen ist wie auf das tägliche Brot.

Tief war der Ort, an dem Dietrich Rössler die ersten Jahre seines Lebens verbringen musste, - er hat nie darüber gesprochen - , man erfuhr auch als Mitarbeiter über viele Jahre kaum etwas von seiner Jugend: In Kiel geboren, die Eltern bei HDW, politisch unter Druck, so sehr, dass der Sohn nach Kriegsende in eine Schulklasse aufgenommen wurde, in der Kinder von Verfolgten des Naziregimes das Abitur machen konnten. Ein Klassenkamerad und Freund war Ernst Lange, gleichfalls theologischer Lehrer; dessen früher Tod 1974, mit 47 Jahren bewegte ihn tief. Dietrich Rössler hat Ernst Lange als einen sprühenden, sensiblen Geist – der er auch selbst war – durchaus bewundert, er hat ihn um 47 Jahre überlebt.

Die Tiefe war für Dietrich Rössler der Ort, an dem er nach Erkenntnissen suchte und Erkenntnis fand, die Tiefe der Seele, die er psychoanalytisch analysierte, die Tiefe des Geistes, die er an den klassischen Philosophen, Kant, Hegel, auch an Thomas von Aquin, und an zeitgenössischen Soziologen, Simmel, Weber, Durckheim, auch Habermas und Luhmann immer wieder auslotete, die Tiefe des Lebens in allen seinen Facetten beschäftigte ihn sein Leben lang. Oberflächlichkeit war ihm zutiefst zuwider. Natürlich berührte und bewegte ihn in allem schließlich auch die Tiefe von Schuld, von Verirrung und Verwirrung, die er in den politischen Verhältnissen in seiner Jugend erfahren hatte, und das zeitlebens. Er erkundete Grenzen und Verantwortung, Schuld und Verirrung auf medizinisch-ethischen Feldern, den „Arzt zwischen Technik und Humanität“ (1976) mit christlich-ethischen Gedanken begleitend, nicht zuletzt orientiert an der Theologie Martin Luthers. Es war das Licht und die Kraft der Gnade, die sein langes Leben erleuchtete und prägte, auch wenn er davon allenfalls in Predigten ausdrücklich sprach, es war das Licht und die Kraft der Gnade, die auf seine Kinder und Enkel, Hörer und Schüler ausstrahlte.

 

Als Wissenschaftler hat Rössler die schmalen, prägnanten Formen der Abhandlung und des Aufsatzes bevorzugt, als nähme er auf die Zeitnot seiner Leser, etwa der praktizierenden Ärzte, Rücksicht; er wollte sich aber auch selbst nicht langweilen, schon gar nicht durch dicke Bücher Gewicht gewinnen. Am Grundriss der Praktischen Theologie (1. Aufl. 1986. 2. Aufl. 1994), dem für sein Fach auch nach 35 Jahren grundlegenden Lehrbuch mit über 600 Seiten hat er lange und nicht immer mit Begeisterung gearbeitet. Das pure Datensammeln war nicht seine Leidenschaft, - über die Jäger und Sammler in den seinerzeit aufkommenden empirischen Wissenschaften konnte er gelegentlich milde spotten -, seine Leidenschaft war das Deuten der Daten, das Verstehen der Verhältnisse. Immer wieder forderte er von seinen Studenten in der Arbeit an ihren Predigten Deutungsanstrengung zur Erschließung von Erfahrungen: „Wat het dat, wat bedüt dat“, war eine seiner typischen, von Enttäuschung geprägten, aber zugleich hoffnungsvollen Kritikformeln bei der Beurteilung studentischer Predigten, - natürlich auf nordfriesisch, damit es in Schwaben niemand so schnell verstehe und ihn etwa gar in langwierige, aber fruchtlose bibelhermeneutische Gespräche verwickelte.

Mit seinem Freund Odo Marquard verband ihn die unerschöpfliche Lust an Phänomenologie, am geistigen Eindringen in die Erscheinungsformen des Lebens in Geschichte und Gegenwart und deren Deutung.

Die Psalmen und viele weitere klassische Texte der Bibel waren für Dietrich Rössler eine unerschöpfliche Quelle von Deutungen des Lebens, die es besser verstehen ließen, als es Menschen im Allgemeinen gelingt. Auch für sein eigenes Werden und Vergehen hat er vor fast 50 Jahren schon Worte der Bibel ausgelegt, wie es allgemeingültiger kaum sein konnte; eine Predigt über Klagelieder Jeremias Kap. 3 beginnt er mit den Worten:

 

„Die Welt, in der wir leben, ist eine Welt von Dingen, die einmal gar aus und zu Ende sein werden. Eines Morgens wird es so sein, als seien sie nie gewesen. – Wenn ich sterbe, werden andere um mich trauern. Das ist nicht selbstverständlich! Nicht jeder hat Menschen, die um ihn trauern werden. Auch bei uns sterben viele einsam und verlassen, und von ihnen bleibt nicht einmal Trauer zurück. Aber auch die, die einsamer geworden sind durch den Tod ihres Vater oder ihrer Mutter oder ihres Kindes, bleiben nicht einfach in der Trauer: Ihre Trauer ist die Brücke, auf der sie vom zugeschütteten Grab ins Leben zurückkehren. Was bleibt sind Erinnerungen, Bilder und hinter dem Namen ein Kreuz“ (aaO., 23).

 

Die Trauer als Brücke der Rückkehr ins Leben, wenn hinter dem Namen ein Kreuz steht, darüber führt nun auch der Weg derer, die um Dietrich Rössler trauern, als Familie, als Freunde, als Schüler. Und diese Brücke ist aus Worten gebaut, über die er selbst im Tode zu gehen sich vorstellte, gebaut aus Trostworten des Psalters:

 

„Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth. Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn!“ (Ps. 84,2f).

 

So ist seine Todesanzeige überschrieben, das Psalmwort wohl von ihm selbst ausgewählt.  Dass dieses Verlangen seiner Seele an ihm selbst Erfüllung finde, darum bitten wir für ihn in dieser Stunde des Abschieds. Dietrich Rössler, Die Tiefe ist der Ort der Gnade. Psalm 130

 

Wir leben - aus keinem anderen Grund als weil wir Menschen sind – in profundis.

 

 

Aber wer in der Tiefe lebt, der will nach oben. Der Mensch strebt nach Höherem. Und an dem, was einer für die Höhe hält, zeigt sich, welche Art von Tiefe es ist, der er entkommen möchte. Denn die Tiefe ist ja ein Bild. Und ein Bild steht immer für vieles und zumeist für mehr als man denkt. Die Tiefe ist das Bild für die Begrenzung, für die Einschränkung, für die Unzulänglichkeit. Tief sind Gruben und Schächte, tief ist, zumal für den alttestamentlichen Beter, das Meer, und tief ist vor allem das Tal, dessen Wände hoch und steil und unübersteigbar sind. Der Mensch, der in der Tiefe lebt, lebt eingeschlossen und gefangen. Vom Himmel sieht er wenig mehr als der Häftling durch das Fenster seiner Zelle. Oscar Wilde hat seinem Bericht über die Jahre, die er im Gefängnis verbracht hat, die Überschrift gegeben „De profundis“. Und das ist von alters her ein gültiges Bild für die Tiefe: Die Menschen leben im Kerker!

 

Es sind oft die schönsten Schlösser, die ein solches Verlies haben, mit einer Öffnung nur weit und unerreichbar oben. Für viele Menschen ist das nicht einmal ein Bild. Für sie ist es eine harte und nur allzu oft tödliche Realität. Sie sind gefangen, eingesperrt, verhaftet. Und so eindeutig wie ihre Gefangenschaft ist auch ihre Freiheit: Die Freiheit ist oben, jenseits der Luke, draußen, bei den anderen, bei uns. Aber es gibt andere Verliese: die Kerker der Vorurteile und der Angst und das Verlies aus Hass, in dem man wohl verlorener und verlassener ist als irgendwo sonst. Gibt es auch dafür Befreiung?

In der Tiefe freilich leben auch die Kinder. Sie müssen nach oben schauen, wenn sie uns sehen wollen, und den Kopf in den Nacken legen. Denn hier oben, bei uns, da fallen die Entscheidungen. Und deshalb ist es natürlich und selbstverständlich, dass die Kinder sich wünschen und sich vorstellen, später einmal dabei mitzumachen, und zwar richtig: als Lokomotivführer oder als General. Und bei nicht wenigen bleibt es dabei und hält sich durch. Sie mögen inzwischen einem ganz anderen Beruf nachgehen und etwa Studenten geworden sein oder zum Lehrkörper an der Universität gehören, und sie mögen dann ansehnlich und also respektiert und respektabel mit ihrer Wissenschaft umgehen:  Unverkennbar schaut einen doch der Lokomotivführer an, der den Zug des Fortschritts lenkt, ganz vorne, Auge in Auge mit dem Horizont, oder der General, der sich mit Ruhm bedeckt, weil er befiehlt, indem er verwaltet.

 

An der Höhe, auf die einer will, erkennt man die Tiefe, aus der einer kommt. Auf dem weichen Boden hoch oben stapeln sich die Wünsche, die Träume, die Hoffnungen, die ideale – eine bunte Sammlung, die auf den Aufstieg ihrer Besitzer aus der Tiefe wartet. Sie ist freilich weniger bunt als man meint. Dem einen reicht es, auf die Höhe zu kommen, auf der andere schon sind. „Dabei sein“ heißt die Periode, „in“ und nicht „out“, dort, wo etwas geschieht, wo das wirkliche Leben und das Leben wirklich pulsiert, im Jet-Set der Partys und oder der Konferenzen. Für andere dagegen muss die Höhe noch etwas höher sein: gerade so hoch dass der Rest unten ist darunter bleibt. Die Höhe schafft dann klare Verhältnisse für die Lust an der Macht – an der Macht in der Institution, an der Macht des Wissens oder auch nur an der Macht der nackten Gewalt. Noch andere wiederum wollen weit höher hinaus: Sie sind erst oben, wenn sie jenseits der Wolken sind, unter einem stets ungetrübten Himmel, wo es Eindeutigkeit gibt wider die Nebel der Probleme und Konflikte oder die Gewitter der Widersprüche: das reine Glück der Gipfelhöhe.

 

Aber nicht dies ist fraglich. Zu fragen ist vielmehr, ob denn alle, die nach oben wollen, wirklich wissen, was sie verlassen; ob der, der den Aufstieg sucht, tatsächlich begriffen hat, was das heißt, in den Tiefen zu wohnen. Tief ist nicht nur das Meer oder das Tal oder das Gefängnis. Tief ist die Trauer und die Leidenschaft, tief sind – mitunter – die Gedanken, tief ist das Leiden der Menschen und tief ist vor allem die Wahrheit. Die Tiefe ist nicht nur ein Bild für den Ort des menschlichen Lebens, sondern für dieses menschliche Leben selbst, dafür, wie es gelebt wird und wie nicht.

 

Eine solche Tiefe hat das Leben für den Menschen nicht von selbst. Im Gegenteil. Das alltägliche Leben bleibt an der Oberfläche. Und zwar mit Recht! Man kann nicht immer wesentlich sein. Die trivialen und selbstverständlichen Angelegenheiten bedürfen der unaufdringlichen Regelung, nicht einer ständigen Diskussion. Die sozusagen vegetative Seite des Lebens läuft entweder von allein oder sie läuft gar nicht. Man kann das an den Narben unsere Institutionen studieren. Aber was es mit dieser Oberfläche auf sich hat, das weiß nur der, der auch die Tiefe kennt. Sonst läuft er Gefahr, beides zu verwechseln. Wer die Tiefe sucht, muss dem Leben auf den Grund gehen. Das tut, beispielsweise, die Wissenschaft. Die wissenschaftliche Neugierde besteht darin, sich mit keiner Antwort zufrieden zu geben. Sie besteht darin, alles und jedes, was als Ursache auftritt, noch für eine Wirkung zu halten, also weiter zu fragen nach dem, was die Ursachen verursacht. Dieser Weg auf den Grund der Dinge gibt zu erkennen, was in der Welt das eigentlich Praktische ist: das nicht das Machen die Geschichte bewegt, sondern das Denken; dass nichts auf den Dächern gepredigt wird, was nicht in der stillen Kammer stiller Gedanke gewesen ist, dass solche Gedanken Geschichte machen und das vor aller Tat der Geist ist, aus dem heraus sie getan wird. Eben die Wissenschaft lehrt, wie blind der Aktionismus sein kann und wie bewusstlos ein Handeln ist, dass ich sich des Grundes im Denken nicht ständig versichert. Sie lehrt, das nicht das Gemachte und das Machbare den Geist der Epoche bestimmen, sondern allein die Gesinnung, aus der heraus es geschieht.

 

Aber wie steht es mit dieser Gesinnung? Können wir zufrieden sein? Zufrieden mit den Gedanken, von denen die Welt unserer Tage regiert wird, zufrieden mit der Gesinnung, die sie gestaltet? Können wir dem, was aus unserem Sinn und Geist unserer Zeit gemacht wird, gegenübertreten und sagen: Siehe, es ist sehr gut? Je mehr wir in die Tiefe steigen und den Dingen auf den Grund gehen, umso deutlicher wird uns das vor Augen treten, was wir schuldig geblieben sind. Das gilt, wie für die Gedanken der Zeit, auch für das eigene Herz.

 

Wer es unternimmt, sich selbst auf den Grund zu gehen, der trifft gewiss vieles, das sich sehen lassen kann. Jeder ist auf seine Weise auch respektabel, jeder hat etwas vorzuweisen. Aber je tiefer man kommt, desto weniger zählt das einzelne, dass man für sich genommen noch wohlgefällig betrachten könnte. Je weiter man sich auf den Grund geht, um so zweifelhafter wird man an sich selbst. Und zwar nicht, weil es an gutem Willen gefehlt hätte. Das gerade nicht. Der gute Wille ist weltweit verbreitet. Wir haben es bei den täglichen und öffentlichen Bekundungen des guten Willens keineswegs nur mit absurder Heuchelei zu tun. Zweifelhaft wird man sich angesichts der Entdeckung, wie wenig dieser gute Wille ausrichtet, wie sehr wir verstrickt sind in unlösbare Zwänge, festgehalten, eingesperrt in die Gefängnisse aus Vorurteilen, Ängsten und Hass: „das Gute, dass ich will, das tue ich nicht, aber das Böse, dass ich nicht will, das tue ich.“ Das findet, wer sich selbst auf den Grund geht.

 

Was wir schuldig bleiben bleibt unsere Schuld. Und das ist kein ästhetisches Problem. Die Schuld ist nicht bloß ein Makel, ein Fehler oder ein Kratzer auf einem Bild, mit dem man im übrigen und im Ganzen dennoch zufrieden sein könnte. Und ebenso wenig ist sie ein ökonomisches Problem: Schuld und Unschuld lassen sich nicht in einer Bilanz verrechnen. Im Gegenteil: Was wir schuldig bleiben, hat die Tendenz, über sich hinaus und auf alles überzugreifen, alles anzukränkeln und in Mitleidenschaft zu ziehen. Es ist die Tendenz der Schuld, das ganze des Lebens infrage zu stellen. Dies schon ihrer Unberechenbarkeit wegen: Wo tritt sie auf? Und wo nicht? Der Fall, dass wir etwas schuldig bleiben und darin schuldig werden, gilt ebenso grundsätzlich wie allgemein, ist überall und zu jeder Zeit möglich. Das Urvertrauen, das unsere Zuversicht in das Gelingen des Lebens begründen will, wird immer wieder mit dem Zweifel konfrontiert. Das verweigerte Gespräch, ein vergessener Gruß, eine aggressive Wendung, eine unwillige Geste – Bagatellen und Trivialitäten füllen die Register dessen, was Menschen einander schuldig bleiben – nicht erst die große Versagung oder das brutale und empfindungslos verschuldete Leiden. Dass es am Selbstverständlichen fehlen kann – Respekt, den wir einander schulden, am Sinn für die Andersartigkeit des anderen und an der Bereitschaft zum Kompromiss für das notwendige gemeinsame Leben –, dies alles zählt bereits und hat enormes Gewicht, wenn es um die Zweifel an der Verlässlichkeit des Lebens geht.

Im Bild der Tiefe ist zusammengefasst, dass und warum der Mensch auf Gott angewiesen ist. Er hat Gott nötig. Dass das Leben gelebt werden kann unter den Bedingungen der Schuld, das ist der Sinn der Worte Vergebung und Erlösung: „So du willst, Herr, Sünden zurechnen, Herr, wer wird bestehen? Bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte… Israel, hoffe auf den Herrn, denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm; und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.“

 

Gott allein kann ein so brüchiges und verletzliches und gefährdetes Leben erhalten. Gott allein kann ein Leben gelingen lassen, dessen Wurzeln bedroht sind und das von allen denen immer wieder aufs Spiel gesetzt wird, um die es dabei geht.

„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.“ Das Erstaunliche und das Entscheidende an diesem Satz ist nicht so sehr, dass der Beter nach Gott ruft. Das viel mehr bezeugt ihm nur ein klares Urteil und eine vernünftige Einsicht in seine eigene Lage und überdies macht es deutlich, dass die Tiefe, aus der und von der er redet, als genau der Ort gemeint ist, der es notwendig macht, Gott anzurufen. Erstaunlich und entscheidend ist dies: der Beter hält es für möglich, dass Gott sich anrufen lässt! Er geht offenbar davon aus, dass Gott tatsächlich bewogen werden kann, sich ihm zuzuwenden, sich seiner Bitte zu öffnen: „Herr, höre meine Stimme, lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens.“

 

Es ist die Stimme des Vertrauens, die hier spricht. Und dass Vertrauen möglich ist unter den Bedingungen des Zweifels und unter der Last der eigenen und unter dem Leiden der fremden Schuld, das ist der Sinn des Wortes „Glauben“.                           

 

Solchen Glauben braucht man, wenn man in der Tiefe wohnt und sich über deren innere Geographie keine Illusionen macht. Wir sollen und wir müssen ja miteinander auskommen, so verschieden wir sind und so verschieden wir reagieren. Der eine, der depressiv vor allem den Frieden sucht und ihm nach läuft mit hängender Zunge und bis in den letzten Winkel. Und der andere, der ichstark genug, auch einmal goldene Rücksichtslosigkeiten walten lässt, wenn sie denn reinigend wirken und die gemeinsame Sache zu fördern versprechen. Und auch der zwanghafte und aggressiv Kämpfer, der um jeden Preis seine Sache verficht, auch wenn er seine Kräfte weit überschätzt, muss dazu gehören dürfen, ebenso wie der, der ängstlich die Realität verneint die eigene Hilflosigkeit wie die Feindschaft der Umwelt verdrängt. Die Tiefenpsychologie mag als eine Art Shell-Atlas oder auch als Kunstführer durch die innere Welt der Tiefe angesehen werden – die Gemeinschaft unter denen zu stärken, die sie untersucht, taugt sie nur wenig. Der direkte Weg von Mensch zu Mensch – solange sie in der Tiefe wohnen – ist der Umweg über Gott. Tatsächlich können wir einander niemals genug Verständnis entgegenbringen, aber kein noch so begründetes Verständnis wird uns von dem befreien, was wir einander schuldig bleiben. Dass wir auf Gott vertrauen dürfen und auf seine Bereitschaft, unsere Verhältnisse zu ordnen, das lernen wir am Beter des 130. Psalms. Wir lernen freilich zugleich, dass auch hier Illusionen nicht am Platze sind: „Ich harre des Herrn, meine Seele harrt und ich hoffe auf sein Wort. Meine Seele wartet auf den Herrn von einer Morgenwache bis zur andern.“ Auf Gott vertrauen heißt: auf Gott warten. Und dieses Warten gibt das Maß für unsere Hoffnung. Über das Warten hinaus werden wir nicht gelangen, aber im Warten liegt eine eigentümliche Dialektik: das Warten ist nicht nur eine Weise unserer Beziehungen zu ihm, wir haben Gott nur so, dass wir ihn nicht haben. Andererseits aber nimmt die Erwartung schon voraus, was noch nicht wirklich ist. Wenn wir in Hoffnung und Geduld warten, dann ist die Kraft dessen, worauf wir warten, schon in uns wirksam. Wenn wir mit Zuversicht warten, dann sind wir schon von dem ergriffen, dann haben wir schon von dem empfangen, was auf uns wartet; wir sind stärker, wenn wir warten, und darin fähig, unser Leben und unsere Geschichte verändern zu lassen.