Kirche in der Krise

Anmerkungen zum Zustand
der Evangelischen Kirche im Rheinland

Hans-Jürgen Volk

 

 "Wenn unsere Tage verdunkelt sind und unsere Nächte finsterer als tausend Mitternächte, so wollen wir stets daran denken, dass es in der Welt eine große, segnende Kraft gibt, die Gott heißt. Gott kann Wege aus der Ausweglosigkeit weisen. Er will das dunkle Gestern in ein helles Morgen verwandeln - zuletzt in den leuchtenden Morgen der Ewigkeit."  (Martin Luther King)

 

Vieles sieht danach aus, dass das 21. Jahrhundert das der Krisen wird. Noch immer bedrängt uns die Corona-Pandemie. Die Flutkatastrophe im Ahrtal und im südlichen Nordrhein-Westfalen führt uns die Folgen der ökologischen Krise unseres Planeten vor Augen. Verheerende Dürren und Brände gab es, über dem Festlandeis in Grönland regnete es seit Menschengedenken zum ersten Mal. Bedrückend ist das Artensterben. Zuletzt kam noch das außenpolitische und humanitäre Desaster in Afghanistan dazu. Die Welt verändert sich. Vieles spricht dafür, dass das Jahr 2021 als ähnlich drastische Zeitenwende bewertet werden wird wie der 11. September 2001, als der Angriff von Terroristen auf das World-Trade-Center in New-York den „Krieg gegen den Terror“ zur Folge hatte.

 

E.K.I.R. 2030 – Ein Positionspapier der neuen Kirchenleitung

 

In diesen Kontext hinein entwickelt die am Jahresanfang neugewählte Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland ein Positionspapier: „E.K.I.R. 2030 – Wir gestalten ‚evangelisch rheinisch‘ zukunftsfähig“. Wäre dieses Papier Ende 2006, Anfang 2007 erschienen, hätte man es als sinnvolle Ergänzung zum EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ auffassen können. Auch so enthält es sinnvolle Elemente, die positiv auffallen. Hierzu zähle ich die starke Betonung ökumenischer Beziehungen, der Bezug zum konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, die Absicht, jüngere Menschen stärker in den Blick zu nehmen und ihnen neue Partizipationsmöglichkeiten zu eröffnen und teilweise auch die Gedanken zum Thema „Mitgliederorientierung“. Insgesamt ist der Text jedoch geprägt von einem erstaunlich stark ausgeprägten Festhalten an Denkweisen und Rezepten, die seit mehr als 20 Jahren die Umbauprozesse in unserer Kirche dominieren. Besonders bedenklich ist die binnenkirchliche Perspektive. Die Krisen und Zäsuren, die Veränderungen auf unserem Planeten bewirken, und die hieraus erwachsenen gesellschaftlichen Diskurse spielen kaum eine Rolle. Der Text scheint in einem zeitgeschichtlichen Vakuum entstanden zu sein.

 

Kalter Kaffee

 

Scheinbar setzt sich das Papier von den Maßnahmen der Vergangenheit ab: „Unsere Aufgabe ist es, die kirchlichen Strukturen nicht einfach immer weiter zu kürzen - …. Wir müssen unsere Kirche angesichts grundlegend veränderter Kontexte in eine andere Gestalt überführen.“ In der Tat kommt das Papier ohne den Finanzalarmismus früherer Zeiten aus. Das ist zu begrüßen. Allerdings strebte auch das EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ eine andere Gestalt von Kirche an. Ebenso wurde bereits auf der Landessynode 2006 eine attraktivere Gestalt der Kirche propagiert, die trotz der für notwendig erachteten Sparmaßnahmen entstehen sollte. Bei den Themen „Digitalisierung“, „Ökumene“ oder „Mitgliederorientierung“ enthält das Papier durchaus interessante Impulse. Die Strategie und die Rezepte sind jedoch die alten. Die neue Kirchenleitung zeigt hier ein bemerkenswertes Beharrungsvermögen in einem Denken, dass in den vergangenen Jahren keineswegs die erhofften Erfolge gebracht hat.

 

Hier einige Beispiele:

 

Man wehrt sich gegen eine „theologische Überhöhung gewachsener, überholter Strukturen“. In Verbindung mit dem angeblichem „Beharrungsvermögen“ und der beklagten „Kleinteiligkeit“ ist unschwer zu erkennen, dass sich dies gegen das Leitbild „einer Kirche auf Gemeindebasis“ wendet. Nebenbei: für eine Kirche, die die Barmer Theologische Erklärung kürzlich erst als Bekenntnisschrift deklariert hat, ist dieser Seitenhieb zumindest erstaunlich. Natürlich ist die äußere Gestalt der Kirche stets auch theologisch zu reflektieren.

 

Dementsprechend möchte man den Kirchenkreisen und Regionen eine weitaus größere Bedeutung geben. Der Pfarrdienst soll auf der Ebene des Kirchenkreises angesiedelt werden. Ebenso wirbt man in diesem Zusammenhang für einen gabenorientierten Einsatz von Pfarrerinnen und Pfarrern. Hier kommt die alte Idee des Teampfarramtes zum Tragen, dass in der Vergangenheit nur selten funktionierte.

 

Die Presbyterien werden nach diesem Konzept zwar mit den Pfarrpersonen kooperieren. Sie haben aber kaum mehr Einfluss auf deren Tätigkeit und Einsatz. Dies regelt zentral der Kirchenkreis. Außerdem sollen sie weitgehend von Verwaltungsaufgaben entlastet werden. Dies könnte so aussehen, dass z.B. Gebäudeverwaltung sowie Personalfragen gänzlich durch den Kirchenkreis erledigt werden. „Entlastung“ bedeutet hier faktisch „Entmachtung“. In der Vergangenheit konnte man bereits beobachten, dass diese Strategie zu einem erheblichen Mehrbedarf an Personal in der zentralen Verwaltung des Kirchenkreises und damit zu Kostensteigerungen zu Lasten der Arbeit mit Menschen führte.

 

Hervorgehoben wird die Bedeutung der Kasualien, also die von Trauung, Taufen oder Beerdigungen. Ergänzen möchte ich noch die Relevanz der Konfirmandenarbeit, von Konfirmations- oder Hochzeitsjubiläen. Hier erreichen wir zumindest in der mir vertrauten ländlichen Region immer noch mindestens 90% unserer Gemeindeglieder. Ein neuer Gedanke ist auch dies allerdings nicht.

 

„Ihr seid das Licht der Welt!“

 

Hier ist ein Zwischenschritt nötig. „Ihr seid das Licht der Welt!“ Jesus sagt dies einer Gruppe von Menschen, die in den Augen der damaligen Öffentlichkeit kaum Relevanz besitzt. Flavius Josephus geht in seinen Werken auf die unterschiedlichen Gruppierungen im damaligen Judentum ein. „Christen“ oder gar so etwas wie eine „christliche Kirche“ erwähnt er nicht. Auch in anderen Quellen dieser Zeit finden „Christen“, die lange als eine Spielart des Judentums verstanden wurden, keinen Niederschlag. Erst ein christliche Autorx wie Eusebius von Caesarea verfasst im 4. Jahrhundert n. Chr. eine erste Kirchengeschichte.

 

Relevanz besaß nicht jene kleine Jesusbewegung, Relevanz besaß ihre Botschaft vom Gottesreich und später vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Es war eine Hoffnungsbotschaft gerade für die randständigen und unterdrückten Menschen im Bereich des römischen Imperiums und darüber hinaus, die sich wie ein Lauffeuer in der damaligen Welt verbreitete und diese veränderte.

 

Beide Großkirchen in Deutschland sind in einer miserablen Verfassung. Alleine die über Jahre hinweg steigenden Austrittszahlen belegen dies. Ebenso nehmen unterm Strich immer weniger Menschen an unseren Gottesdiensten teil. Als ich 1988 meinen Dienst als Pfarrer in Zell an der Mosel begann, lag die durchschnittliche Teilnahme an den Gottesdiensten in der rheinischen Kirche noch bei 4,5-5%. Das war bereits bedenklich niedrig. Heute ist sie über die Jahre hinweg auf 2,4% gesunken – und das trotz aller Umbaumaßnahmen und Qualitätsoffensiven.

 

Die kritische Entwicklung unserer Kirche nimmt das Papier der Kirchenleitung ja durchaus wahr. Es fehlt aber jeder Ansatz einer selbstkritischen Reflektion. Bewertet werden müsste, ob denn die Stärkung der Kirchenkreisebene, die Verwaltungsstrukturreform oder das Neue Kirchliche Finanzwesen (NKF), die Erwartungen erfüllt oder Fehlentwicklungen befördert haben. Ist der Ansatz von „Kirche der Freiheit“, den Qualitätsbegriff in den Mittelpunkt kirchlichen Handelns zu stellen und „von der Wirtschaft lernen“ zu wollen, hilfreich oder nicht vielmehr destruktiv? Wann haben je die negativen Finanzprognosen in der rheinischen Kirche je gestimmt? Haben sie nicht vielmehr Abbauprozesse beschleunigt mit schädlicher Wirkung, verschärft zuletzt durch die Sparsynode in Hilden von 2013? War es sinnvoll, sich abhängig zu machen von externen Beratern wie Steria Mummert, BSL oder Kienbaum, deren neoliberale Ideologie offenkundig ist und die unsere Kirche mit betriebswirtschaftlich orientierten Konzepten von der Stange traktiert haben? Diese Fragen werden nicht gestellt. Stattdessen traktiert die Kirchenleitung eine erschöpfte Kirche mit einem aufwendigen Aktionsprogramm, dass die Stärkung der Organisation, also die Bestandssicherung der Kirche sowie die Optimierung von Haupt- und Ehrenamtlichen zum Ziel hat. Das kann so nicht funktionieren. Zum Beispiel das Thema „Digitalisierung“, dass gewiss von Bedeutung ist: die massiven und kostenträchtigen Softwareprobleme bei der Finanzverwaltung wurden bis heute nicht wirklich gelöst. Wenn man jetzt verstärkt mit Apps arbeiten und unter den Rahmenbedingen der heutigen Rechtslage beim Datenschutz personenbezogene Daten sammeln sowie Befragungen durchführen will, kann einem angesichts der Erfahrungen der Vergangenheit nur angst und bange werden.

 

Kritisch wird die Kirchenleitung dort, wo sie trotz aller Strukturveränderungen der Vergangenheit ein unsachgemäßes „Beharrungsvermögen“ und ein Festhalten an „überholten Strukturen“ ausmacht. Wie ist dieser seltsame Widerspruch zu deuten? Ich vermute, man macht die Erfahrung, dass allzu Viele bei den Umbaumaßnahmen der Vergangenheit nicht wirklich mitgezogen haben. Dies ist jedenfalls auch meine Wahrnehmung. Dann aber gleicht man dem zweifelhaften Lehrer, der für seinen misslingenden Unterricht die schlimmen Schüler verantwortlich macht.

 

Die Kirche hat keinen guten Stand in unserer heutigen Gesellschaft. Sie ist in einer Krise. Relevanz besitzt aber die Botschaft vom Reich Gottes und vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Und dies umso mehr, als die Krisen in dieser Welt sich häufen. „Ihr seid das Licht der Welt!“ Es wäre erfreulich, wenn eine Kirchenleitung im Geiste dieser Worte Jesu ermutigen und Hoffnung wecken würde.

„Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! Sagt den verzagten Herzen: Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!‘“ (Jesaja 35,3.4)

 

Des Pudels Kern

 

Eine Strategie der Ermutigung, die vom Evangelium bestimmt ist, beginnt mit dem Interesse an den Sorgen und Nöte der eigenen Leute. Insofern ist der Kontakt zu den Menschen vor Ort und die Wahrnehmungsfähigkeit derer, die dort haupt-, neben- oder ehrenamtlich tätig sind, von großer Bedeutung. Es gibt in der rheinischen Kirche immer noch Gemeinden, wo genau dies geschieht und die sich trotz des allgemeinen Erosionsprozesses der Kirche als vital erweisen. Hilfreich wäre es gewesen, hätte sich die neue Kirchenleitung zunächst einmal an die Presbyterien sowie die haupt-, neben- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kirche gewandt und diese befragt: „Wo drückt euch der Schuh? Was habt ihr in der Vergangenheit als positiv, was als hinderlich erlebt? Was braucht ihr?“ Stattdessen tritt man mit einem Papier in Vorlage, ohne diese Kommunikation von der Basis aus in die Leitungsebene geführt zu haben. Damit folgt man der Methodik des „Change-Management“.

 

Und hier ist des Pudels Kern. Change-Management ist eine betriebswirtschaftliche Methode, die in der Tat immer wieder auch auf Großorganisationen angewandt wurde. Kurz sei hier skizziert, wie das Ganze funktioniert: In der Regel verständigt man sich auf der Vorstandsebene, dass auf Grund dauerhaft sinkender Quartalszahlen, Marktverlusten oder neuer Technologien Veränderungen nötig sind, damit das Unternehmen am Markt bestehen kann. Zunächst geht es darum, die Dringlichkeit von Veränderungen plausibel zu machen. Dann wird ein Führungsteam gebildet, dass für die Veränderungen zuständig ist. Hierzu zählen oft externe Berater, aber auch ausgewählte Mitarbeiterinnen. Dann wird eine Vision entwickelt, in welche Richtung die Veränderungen gehen sollen. Zuletzt werden die übrigen Beschäftigten mit einbezogen, die im Rahmen der Vorgaben der Führung Lösungsansätze entwickeln sollen. Im Papier der Kirchenleitung wird dieser Schritt wie folgt beschrieben:

 

„Entsprechend wird hier eine Veränderungsstrategie verfolgt, die verschiedene Elemente verbindet:

1. Exemplarisches Handeln von „Pionier-/innen“ (z. B. Modellgemeinden, neue Akteure)

2. Wirksame Kontextveränderungen als strukturelle Hebel auf verschiedenen Ebenen (z. B. Ressourcen-Steuerung, Anstellungsfragen, Leitungsgremien, Kooperationsräume)

3. ideelle Stärkung (z. B. geistliche Zurüstung, Vision, theologische Leitvorstellungen),

4. agile, zielorientierte Prozessgestaltung (z. B. orientiert an Umsetzung, nicht an Verwaltung). D. h.: schnelle Umsetzungsphasen (Sprints), Rückkopplungsschleifen (Nutzersicht), messbare Wirkziele, Terminierung, finanzielle Ressourcen, Wahl geeigneter Akteure, hinreichend Arbeitsanteile.“

 

Diese kirchenfremde und kalte Managementsprache macht eins deutlich: Man sucht das Heil der Kirche darin, sie analog zu einem Konzern zu behandeln und „zukunftsfähig“ zu machen. Das ist nun gar nichts Neues. Es ist ein Prozess der spätestens seit vom Mc Kinsey- Mann Barrenstein in den 90-er Jahren ins Leben gerufenen „München-Projekt“, das im Übrigen wenig erfolgreich war, und der seit „Kirche der Freiheit“ vor 15 Jahren das kirchliche Leitungshandeln prägt.

 

„Ekklesia“ meint ursprünglich die griechische Volksversammlung. Daher wäre eine Kirche analog zu einem Gemeinwesen zu behandeln, wie Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer dies nahelegen. Und so ist die rheinische Kirche ja auch verfasst. Mit ihrer presbyterial-synodalen Ordnung entstehen so zwangsläufig immer wieder enorme Reibungsverluste zur Methodik des Change-Managements, dass letztlich eine hierarchische Unternehmensstruktur voraussetzt und Partizipation lediglich im Rahmen der von der Führungsebene gemachten Vorgaben zulässt.

 

Blinde Flecken

 

Im Grunde propagiert die Schrift der Kirchenleitung einen verschärften strukturellen Wandel angesichts der krisenhaften Verfassung unserer Kirche. Dabei folgt sie weitgehend einer betriebswirtschaftlichen Logik, die immer in Gefahr steht, externe aber auch interne Faktoren von großer Bedeutung nicht wahrzunehmen. Das ist das Problem.

Wer soll den durchaus wünschenswerte Elemente enthaltenen „Aktionsplan“ der Kirchenleitung eigentlich umsetzen?

 

Seit Jahren müssen wir feststellen, dass immer weniger Menschen bereit sind, in unseren Presbyterien und Kreissynodalvorständen Verantwortung zu übernehmen.

 

Durch den Abbau von Pfarrstellen gerade in strukturschwachen Regionen sind viele Pfarrerinnen und Pfarrer am Limit. Die Burn-Out-Fälle häufen sich. Freie Kapazitäten sind oft kaum noch vorhanden. Da eine gesteigerte Aktivität bei Kasualien zu fordern, ist wirklichkeitsfremd.

 

Ähnlich sieht es in unseren Verwaltungen aus, obwohl die auf Grund von NKF und weiteren zusätzlichen Aufgaben verstärkt worden sind. Die Vorschläge zum Thema „Digitalisierung“ werden den Drang verstärken, weitere Verwaltungsstellen einzurichten.

 

Dies sind nur Beispiele, die deutlich machen sollen, dass man den Zustand unserer Kirche nicht hinlänglich wahrnimmt. Ein offener Dialog, der dazu ermutigt, Probleme zu benennen und auch unkonventionelle Vorschläge zu machen, ist dringend erforderlich.

 

Daneben gibt es externe Faktoren, die völlig unzureichend wahrgenommen werden:

 

Mobilität: Um die Klimaziele zu erreichen, benötigen wir dringend eine Verkehrswende. Neben dem Ausbau der Schiene und es öffentlichen Nahverkehrs gilt es, Strukturen zu schaffen, die Mobilität reduzieren. Eine Kirche, die sich mehr und mehr aus der Fläche zurückzieht und auch in ländlichen Regionen Gemeindezentren und Kirchen schließt, verhält sich ähnlich wie der Bankensektor, wo die Filialen in Dörfern und kleineren Städten geschlossen werden. Dass Pfarrerfortbildung nicht mehr in Rengsdorf, sondern in Wuppertal und Bielefeld stattfindet, erzeugt problematische Mobilität. Dezentrale Strukturen und ortsnahe Angebote sind auch aus umweltpolitischen Gründen geboten.

 

Inklusion: Wir leben in einer Gesellschaft, in der immer mehr Seniorinnen und Senioren in ihrer Mobilität eingeschränkt sind und oft kein Auto mehr besitzen. Ab einem bestimmten Punkt werden Distanzen zu Barrieren. Gerade diese Menschen sind jedoch auf Zuwendung durch vertraute Personen angewiesen. Auch dies spricht für Dezentralität und überschaubare, beziehungsfreundliche Strukturen. „Kleinteiligkeit“ ist hier eine Stärke und eine Notwendigkeit. Auch beim Thema „Digitalisierung“ besteht die große Gefahr, dass weite Teile unsere Bevölkerung, die nicht digital-affin sind und die kein Smart-Phone besitzen, schlicht abgehängt werden. Bis auf weiteres sind ergänzende, analoge Angebote unabdingbar.

 

Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse: Hier liegt aus meiner Sicht der größte Schwachpunkt der rheinischen Kirchenentwicklung. Bis heute werden finanzielle und personelle Ressourcen im Wesentlichen nach der Entwicklung der Gemeindegliederzahlen verteilt. Dies führt dazu, dass strukturschwache Regionen deutlich stärkeren Anpassungs- und Rückbauprozessen ausgesetzt sind, als urbane, wirtschaftlich prosperierende Regionen. Es ist bedrückend, dass zum Beispiel im nördlichen Ruhrgebiet Gemeindezentren geschlossen wurden, in denen seit Jahrzehnten eine ambitionierte Sozialarbeit stattfand. Man zieht sich von sozial schwachen Menschen zurück, die gerade eine intensivere Zuwendung seitens der Kirche benötigen. In ländlichen Regionen wird eine ungute Situation verschärft, wenn nach dem Dorfladen, der Bäckerei und der Gastwirtschaft nun auch noch das Gemeindehaus verkauft und in der stets gut besuchten Kirche nur noch einmal im Monat statt wöchentlich Gottesdienst stattfindet. Auch in ländlichen oder städtischen strukturschwachen Regionen sollte das einzelne Gemeindeglied wenigstens annähernd vergleichbare Angebote vorfinden, wie das Gemeindeglied aus Köln, Bonn oder Düsseldorf.

Eine Kirche wie die Evangelische Kirche im Rheinland sollte immer auch das Gemeinwohl im Blick haben. „Suchet der Stadt Bestes!“ (Jeremia 29,7)

 

Oase zum Auftanken – dem Geist Raum geben

 

In einer von Krisen geschüttelten Welt benötigen Menschen Oasen zum Auftanken. Wer ständig an Strukturen herumschraubt und den Satz „ekklesia semper reformanda est“ mit einer stetigen Verflüssigung und Verformung des Leibes Christi verwechselt, verkennt dieses Bedürfnis und damit den zentralen Auftrag der Kirche. Allein der Begriff „zukunftsfähig“ ist aufschlussreich. Er macht anschlussfähig an betriebswirtschaftliche Methoden und wird analog zum Begriff „wettbewerbsfähig“ verwendet, der nun mal bei Großorganisationen wie einer Kirche deplatziert ist.

Eine Kirche ist aus sich heraus niemals zukunftsfähig. Sie lebt vom Wort Gottes. Sie sollte dem Geist Raum geben durch Zurücknahme menschlichen Eigenwillens und fragwürdiger Machbarkeitsphantasien. Hoffnung auf Zukunft schenkt das Evangelium vom Reich Gottes und vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Im Hören auf dieses Wort entstehen Oasen zum Auftanken. Dort finden Menschen Halt und Hoffnung inmitten in Krisenzeiten.

„Denn so spricht Gott der HERR, der Heilige Israels: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Vertrauen würdet ihr stark sein.“ (Jesaja 30,15)

 

Pfr. i. R. Hans-Jürgen Volk
war von 2000 bis 2021 Pfarrer in der Ev. Kirchengemeinde Eichelhardt im Kirchenkreis Altenkirchen. Seit 2011 war er dort Synodalbeauftragter für die Behindertenseelsorge.