Editorial Infobrief Nr. 29 (2020)

Liebe Mitglieder des Rheinischen Pfarrvereins, 
liebe Leserinnen und Leser dieses 29. Infobriefs,

hätte es nur die „Zwölf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche“ der EKD Anfang November 2020 gegeben, ohne dass vorher die im Sommer bekannt gewordenen „Elf Leitsätze“ je den Weg in die Öffentlichkeit gefunden hätten - sie wären dort möglicherweise kaum wahrgenommen worden. Es lässt sich ebenso fragen, ob sie überhaupt irgendwelche Auswirkungen auf das kirchliche Leben haben werden, und, wenn ja, welche. Mit deren Verabschiedung auf der EKD-Synode ist jedenfalls die Diskussion um sie schlagartig zur Ruhe gekommen. Man könnte daher fragen, ob es noch einen Sinn hat, sich noch mit der ursprünglichen Fassung der „Elf Leitsätze“ zu befassen. Die heftige Diskussion - vor allem im „Zeitzeichen“ - hat man sich  offensichtlich in EKD-Kreisen sehr zu Herzen genommen.

 

Der Vorstand des Pfarrvereins war der Meinung, dass es gut wäre, diese kurze Zeit des heftigen Diskurses darüber nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Zu sehr waren wir von der provozierenden und unsensiblen Sprache und den nach unserer Ansicht völlig unausgegorenen Thesen bewegt und aufgewühlt. Deswegen wollen wir ganz bewusst den „Elf Sätzen“, auch wenn sie inzwischen gegenstandslos sind, ein Denkmal setzen, damit niemand vergisst, dass es so etwas einmal in der Geschichte unserer Kirche gegeben hat. Friedhelm Maurer setzt sich in seinem Rechenschaftsbericht ausdrücklich mit ihnen auseinander. Der „Offene Brief“ des Vorstandes, der dann nicht versandt worden ist, den wir hier aber dokumentieren, hat ebenfalls die ursprüngliche Fassung der „Elf Sätze“ zum Hintergrund.

Aber nun sind die „Zwölf Sätze“ die Grundlage des weiteren Gespräches. Zunächst erinnert Reinhard Schmidt-Rost an den Nutzen des Evangeliums für die Gesellschaft, aber eben nicht, in dem sie für die leitende Ideologie - der seit der Jungsteinzeit geltende Grundsatz, dass der Stärkere der Bessere ist - den Resonanzboden bereit stellt, sondern indem sie ihm ausdrücklich widerspricht. Stephan Sticherling knüpft mit seine Überlegungen zu „drei Freiheiten den evangelischen Kirche“ an den entscheidenden elften der zwölf verabschiedeten Leitsätze an. Rolf Wischnath bezieht eine klare und dann doch wieder diffenzierte Position dazu. Da wir gerne auch eine Stimme von der „anderen Seite“ hören wollten, haben wir Jacob Joussen dazu befragt; er ist als Presbyter der Düsseldorfer Lutherkirchengemeinde und als Jura-Professor in Bochum (u. a. mit Schwerpunkt kirchliches Arbeitsrecht) Mitglied im Rat der EKD.

Nachdenklich macht die Forderung einer „Restitution des Gemeindeprinzips als Profilraum der Zukunft“ von Hartmut Becks. Seine bemerkenswerten Überlegungen werfen die Frage auf, ob die EKD sich zwar auf eine intensive Sozialforschung beruft, sich aber dabei von weitgehend überholten Leitbildern leiten lässt. Sie folgt noch immer dem „Gleichheitsparadigma“ im Stil der alten Frankfurter Schule, missachtet jedoch dabei die unserer Lebenswirklichkeit inhärenten Ungleichheiten, und dass es gerade diese sind, die dem Individuum Orientierung und Zugehörigkeit ermöglichen. Wenn das stimmt, dann hat das, wie Becks erläutert, nachhaltige Konsequenzen für die Kirchenentwicklung, die derzeit noch nicht im Blick sind.

Wenn man all diese Beobachtungen und Äußerungen zum gegenwärtigen Stand der Entwicklung unserer Kirche zusammennimmt, dann spürt man: Ja, wir stehen von einem tiefgreifendem Wandel unserer Kirche. Darin werden wir alle übereinstimmen. Aber wir haben noch keine, oder allenfalls nicht mehr als eine Ahnung, wohin die Reise gehen wird. Wovon ich aber überzeugt bin, ist, dass wir noch entdecken werden, welchen Reichtum wir, mehr verborgen als wirklich sichtbar, als Einzelne wie auch als Gesellschaft mit der evangelischen Kirche haben. Oder anders gesagt: Unsere Kirche hat schon etliche babylonische Gefangenschaften überwinden und hinter sich lassen müssen - und nicht zuletzt diese Erfahrung macht den Reichtum aus. Entscheidend ist, dass sie wandlungsfähig ist und deswegen auch einen tiefgreifenden Wandel nicht fürchten muss.

Wir werden solche Wandlungen oder Verwandlungen als Pfarrverein begleiten. Das tun wir im Wissen, dass, wie sich die Kirche auch wandeln und wohin sie sich auch bewegen wird, das Pfarramt immer eine Schlüsselrolle spielen wird. Deswegen sind gerade wir Pfarrerinnen und Pfarrer hier gefordert und herausgefordert, nicht zuletzt auch deswegen, um die Schönheit unsereres Berufes zu veranschaulichen und Angehörige der kommenden Generationen zu ermutigen, ihn trotz aller Unwägbarkeiten zu ergreifen.

Diese Herausforderung nehmen wir an und dafür suchen wir das Gespräch. Auf dem coronaverhinderten Pfarrerinnen– und Pfarrertag konnten wir es nicht führen. Dafür gibt es mit der neuen Blog-Seite des Pfarrvereins pfarrverein-rheinland.de einen neuen Ort. Hier können wir uns austauschen, gegenseitig informieren, Entdeckungen mitteilen, Anregungen weitergeben - alles, was nötig sein wird, damit wir als Pfarrverein unseren Beitrag zu Wandel und Gedeihen der evangelischen Kirche beitragen können. Bitte machen Sie, macht Ihr von dieser Möglichkeit Gebrauch! (Mehr dazu Seite 24)

Ach, und noch was: Unser Vorstandsmitglied Reinhard Schmidt-Rost überrascht uns immer wieder mit seinen dichterischen Einfällen und poetischen Kommentaren zum aktuellen Geschehen oder gar zu einem ganzen Corona-Jahr mit seinen „ausgefallenen Festen“. Es gibt wahrlich nicht viele, die die lyrische Sprache so beherrschen wie er. Davon wollten wir den Leserinnen und Lesern gerne ein Kostprobe vorführen.

In diesem Sinne Ihnen und Euch ein gesegnetes Jahr 2021, und, so Gott will, bis bald,

Stephan Sticherling,
Schriftleiter