Rechenschaftsbericht 2020 des Vorsitzenden

Friedhelm Maurer (Gemünden)

 

Narrative prägen unser Leben. Narrative sind der Definition nach „sinnstiftende Erzählungen, die Einfluss haben auf die Art, wie die Umwelt wahrgenommen wird“ (so in Wikipedia). Seit etwa dreißig Jahren findet sich der Begriff „Narrativ“ im Diskurs.

 

In der Theologie gab es den Begriff aber wohl schon früher, man denke an Jean Baptiste Metz zu Anfang der 70-ziger Jahre, der Theologie wesentlich als „erzählende Erinnerung“ an Jesu Befreiungstat verstand. Theologie als „narrative Theologie“ sollte die Botschaft des Evangeliums nacherzählen und darin das Neuerzählen ermöglichen. Harald Weinrich verstand das Christentum als Erzählgemeinschaft.

 

In unseren Tagen entdeckt die Wirtschaft Narrative als Möglichkeit zur gesellschaftlichen Orientierung. Der Wirtschaftswissenschaftler Robert J.Shiller, der 2013 den Nobelpreis für Ökonomie verliehen bekam, hat letztes Jahr ein Buch vorgelegt (Originaltitel: „NARRATIVE ECONOMICS: How Stories Go Viral and Drive Major Economic Events“) , das in diesem Jahr in deutscher Übersetzung erschienen ist: „Narrative Wirtschaft. Wie Geschichten die Wirtschaft beeinflussen – ein revolutionärer Erklärungsansatz“.

 

In der Werbung weiß man, dass es nicht damit getan ist, gute Produkte zu haben: „Man muss Geschichten erzählen. Auch Transparenz gehört dazu. Influencer sind super, weil sie sehr authentisch über die Dinge berichten. Ohne diesen Marketingsprech“, sagt die Chefin eines Kosmetikherstellers (Isabel Bonacker, in: FOCUS Nr.35 vom 22.8.2020, S.60)

 

Meine Frage ist: wie beeinflussen Narrative unsere Kirche? Und vor allem: welche Narrative beeinflussen sie? Es sind offensichtlich nicht mehr maßgeblich die Narrative der Bibel, nicht mehr etwa Jesu wunderbare Gleichnisse. Welchen „Sprech“ spricht die Kirche?

 

In den Gleichnissen Jesu kann man erfahren, wie Gemeindeaufbau im Horizont des kommenden Gottesreiches zu geschehen hat. Stattdessen, so scheint es, setzen kirchenleitende Personen in ihren synodalen Beratungsprozessen und Entscheidungen auf die Narrative von Unternehmensberatern und Organsiationsentwicklern. Bei meinem letztjährigen Bericht führte ich als Beispiel das Narrativ vom Hofnarren an. Es ist das Narrativ, das der in unserem Kirchenkreis beauftragte Unternehmensberater der Kreissynode von Simmern-Trarbach vorlegte und das bestimmend wurde für den weiteren Verlauf des sogenannten „Struktur- und Reformprozesses“. Systematischer Pfarrstellenabbau ist Teil des Konzeptes. Und nun wird in unserem Kirchenkreis sogar eine weitere Stufe gezündet im Hinblick auf 2030, konkret: eine Arbeitsgruppe wird eingesetzt, um die 15 Gemeindepfarrstellen, die nur noch in 2025 vorhanden sein werden, noch weiter, auf schließlich nur noch 10 plus hauptamtlicher Superintendent, zu reduzieren. 

 

„Weil du reichlich gibst, müssen wir nicht sparen“, das geistliche Lied, „Komm Herr, segne uns“, eg 170,das andächtig vor entsprechenden Ausschuss-Sitzungen gesungen – oder in Corona-Zeiten eben nicht gesungen wird, müsste man konsequenterweise in Strophe 2 umschreiben: „Obwohl du reichlich gibst, müssen wir jetzt (weiter) sparen.“ Dorfkirchen auf dem Land werden folglich verwaisen, mit den sogenannten „Rückbau“ macht man Gemeinden auf dem Land kaputt. 

 

Die neue „Sparrunde“ wird unterfüttert von den „Elf Leitsätzen“ des „Z-Teams“ der EKD. dem der so apostrophierte „Cheftheologe“ Thies Gundlach angehört. Heute vormittag haben wir uns, fundiert durch die Analysen von Reinhard Schmidt-Rost und Stephan Sticherling, intensiv auf unserem 51. Rheinischen Pfarrerinnen- und Pfarrertag damit befasst. 

 

Nach meiner ersten Lektüre dieses „Papiers“ hatte ich mir notiert:“Fürchterlich, in sich unstimmig, heillos wie so manches bisherige Geschwafel, absolut nichts Neues, überflüssig, nur eines wird gefördert: Verdruss“. Gleichwohl habe ich das Papier nochmals gelesen, um ihm gerecht werden zu können. Doch schon allein die Sprache bereitete mir Qualen. Mein Urteil in der Sache: da stehen wohl manche richtigen Sätze drin, aber eben auch, genau hingeschaut, weil etwas versteckt: ungeheuerliche Sätze.

 

Fokussiert auf die Frage nach dem Umgang mit den Parochial-Kirchengemeinden lässt sich eindeutig feststellen, dass hier vonseiten der kirchlichen Vor-Denker und An-Denker die Ortsgemeinde abgekanzelt wird. „Parochiale Strukturen werden sich wandeln weg von flächendeckendem Handeln hin zu einem dynamischen und vielgestaltigen Miteinander wechselseitiger Ergänzung“ (S.6, Zeile 263ff.) und „Parochiale Strukturen werden ihre dominierende Stellung als kirchliches Organisationsprinzip verlieren“ (S.7, Zeile 292f.) und „Angesichts der Wucht der anstehenden Aufgaben können Entscheidungen nicht dem Selbsterhaltungsinteresse von Teilbereichen dienen. Entsprechend gilt es, Prozesse eines freiwilligen Zusammengehens in größere Einheiten und selbstgesteuerte Kooperationen mit dem Ziel der Nachhaltigkeit und Qualitätssicherung zügig umzusetzen.“ (S.10, Zeile 436ff.). 

 

Spannend ist es, in diesen Sätzen nach dem Subjekt des Handelns zu fragen. Ist es Gott („Die Kirche der Zukunft bleibt Gottes Kirche“, S.1, Z.9)?, sind es die freiwillig zusammengehen wollenden (eher: sollenden) Ortsgemeinden? Ist es der geschichtliche Wandel der Zeiten? Oder sind die „Umsetzer“ am Ende doch die wissenden Kirchenlenker, die bewerten, was nicht dynamisch ist und also als „statisch“ überwunden werden muss – „Es gilt, Beharrungskräfte einzuhegen.“(S.11, Zeile 470). Die so handelnden Heger beschreiben dann im folgenden Satz, ihr eigenes Tun verschleiernd, das noch nicht Eingetretene als mit Gewissheit eintretende Wirklichkeit im Indikativ: „Parochiale Strukturen werden sich verändern“, S.11, Zeile 470f. 

 

Bei wiederholtem Lesen erkennt man die vielfältigen Unterstellungen: Ortsgemeinden würden ein Selbsterhaltungsinteresse vertreten, hielten das Alte fest, seien nicht bereit für Veränderungen. In Zeiten „zurückgehender Ressourcen“ (S.14, Z.589) müsse man sie beschränken, denn bei den „Umbau- und Rückbauaufgaben“ (S.13, Z.588f.) „hemmten“ sie nur die Denker der zukunftsfähigen Kirche auf ihrem Weg „hinaus in Weite“ (S.14, letzte Zeile).

 

Wie lange noch werden solche Schriften die Geduld der Kirchengemeinden vor Ort, die Geduld vieler Kirchensteuerzahler missbrauchen?

 

Nun hieß es, dieses Papier diene nur der internen Verständigung, auf der EKD-Synode im November 2020 werde ein anderer Text verabschiedet. Um so peinlicher – nun war es heraus, wie man „intern“ denkt und plant. Ohne die Erfahrungen der Basis einzuholen, ohne etwa die Pfarrerschaft angemessen an den Überlegungen zu beteiligen. So war es schon bei „Kirche der Freiheit“, 2006, bei diesen unsäglichen Narrativen von den Leuchttürmen und dem Wachsen gegen den Trend. 

 

In seinem Bericht vor der Mitgliederversammlung des Verbandes der Pfarrvereine in Deutschland am 29.9.2020 in Leipzig führte der Verbandsvorsitzende Andreas Kahnt dazu aus: „Bei der Entwicklung der Leitsätze war die verfasste Pfarrerschaft nicht beteiligt. Eine theologische Reflexion hat nicht stattgefunden. Ebenso wenig eine Deutung hinsichtlich der Ziele und der möglichen Auswirkungen in Kirche und Gesellschaft. Daher wird sich niemand wundern, dass von Pfarrerinnen und Pfarrern kaum große Bereitschaft erwartet werden darf, die Leitsätze irgendjemandem als notwendig, zielführend oder zukunftstauglich zu vermitteln. Insofern hat die EKD einen alten Fehler wiederholt, indem sie diejenigen, die Veränderungen an der Basis umsetzen müssen, von den Überlegungen zu den vermeintlich notwendigen Veränderungen ausgeschlossen hat.“

 

Auf der Homepage der EKD war im Oktober (Stand: 15.10.2020) zu lesen:

„Unter dem Motto „Kirche auf gutem Grund“ hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) elf Leitsätze zur Weiterentwicklung der evangelischen Kirche veröffentlicht. Der erste Entwurf ist öffentlich breit diskutiert worden. Es gab Kritik und Zustimmung. Beides wurde aufgenommen und ist in eine überarbeitete und um einen 12. Punkt ergänzte Fassung eingeflossen. Diese wird im Oktober 2020 zunächst in den Ausschüssen der EKD-Synode diskutiert. Der Öffentlichkeit wird sie gemeinsam mit den Unterlagen der anderen Zukunftsprozesse im Vorfeld der Synodentagung vom 8. bis 9. November 2020 vorgestellt.“ 

 

Warum solch ein Geheimnis um die offensichtlich schon überarbeitete und um einen 12. Punkt ergänzte Fassung? Ich hätte mir die Abarbeitung an manchen Fehlern vielleicht ersparen können … Immerhin: den einen Fortschritt sah ich schon in der nunmehrigen Zwölfzahl der Sätze, das hörte sich seriöser an als die närrische Elf...

 

Auf Umwegen bekam ich dann doch schon am 20.Oktober die Drucksache IXa/1 zu Gesicht, die überarbeitete Fassung als Vorlage für die 7.Tagung der 12. Synode der EKD vom 8.bis 9.11.2020 in Berlin. 

 

Wie zu erwarten: noch mehr Textumfang, noch mehr Überflüssiges. Aber beim dem größeren Umfang waren leider keine Hinweise zu finden, worin der „scharfe Widerspruch“ (S.6) gegen die bislang vorgelegten Elf Leitsätze bestand, geschweige denn eine Auseinandersetzung mit der doch wohl beachtenswerten Kritik. Die Überschriften über die – nun zwölf – Leitsätze, die der zukünftigen Arbeit der EKD dienen und als Impulse für die Landeskirchen in deren eigenen Veränderungsprozessen berücksichtigt werden sollen, kommen mehr wie aneinandergereihte Stichworte daher als ein systematischer Entwurf:  Frömmigkeit – Seelsorge – Öffentlichkeit – Mission – Ökumene – Digitalisierung – Kirchenentwicklung – Zugehörigkeit – Mitarbeitende – Leitung – Strukturen – EKD und Landeskirchen. Im Vorspann finden sich viele Gemeinplätze, z.B. die Leitsätze „erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Sie wollen diskutiert, ergänzt, verändert und angepasst werden“ (S.1) etc. Am Ende zielten sie auf verbindliche Verabredungen, und man höre: sie konkretisierten sich in den Vorschlägen des ‚Begleitenden Finanzausschusses für eine Finanzstrategie der EKD‘. Offensichtlich sind es also mehr als „Impulse“, auch wenn das Gegenteil behauptet wird, wie offen doch der Diskussionsprozess sei. 

 

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier durchgängig der Versuch unternommen wird, auf allen Ebenen alle „auf Linie“ zu bringen: „Allein der – mitunter mühsam errungene – Konsens erlaubt den Weg ins Weite.“ (S.1). Ein erheblicher Konformitätsdruck wird ausgeübt. In Satzungetümen wird dazu subtil verschleiert, wer das Handeln bestimmt. Ein Beispiel: „Zukünftig wird es noch wichtiger, dass Mitarbeitende mit Leitungs- und Führungsaufgaben im Sinn gesamtkirchlicher Orientierung und christlicher Identitätsbildung wirken. Die Leitungs- und Entscheidungskultur im kirchlichen Raum darf den Maßstäben christlicher Gemeinschaftsbildung nicht widersprechen. Angesichts der Wucht der anstehenden Aufgaben können Entscheidungen nicht dem Selbsterhaltungsinteresse von Teilbereichen dienen. Transparenz, Partizipation und gute Begleitung sind die Voraussetzung dafür, dass Beteiligte die Prozesse eines freiwilligen Zusammengehens in größere Einheiten und selbstgesteuerte Kooperationen mittragen und mitgestalten können.“ (S.24f.)

 

Wenn Sie das hören, liebe Brüder und Schwestern, wird es Ihnen da nicht auch unbehaglich? Das hat etwas von der Kirche des Mittelalters, die „freiwillige“ Bekenntnisse oft genug erzwingen wollte.- Der „Weg ins Weite“ zwingt erst einmal offensichtlich in die Enge. Das Papier der EKD atmet keine Freiheit, so wenig wir das vorherige Papier „Kirche der Freiheit“. Es ist ein Phänomen, dass die Titel solcher Schriften das Gegenteil dessen deklarieren, was die Inhalte sagen.

Dazu sind sie in sich unstimmig – die „Kirche auf gutem Grund“ bewegt sich „hinaus ins Weite“. Und was ist eigentlich „Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche“? Das ist so schräg wie das Bild von den Leuchttürmen in GPS-Zeiten. 

 

Alle Zukunftsüberlegungen, so heißt es ganz am Ende des Papiers, nachdem im angefügten 12. Leitsatz das Verhältnis von EKD und Landeskirchen thematisiert wird, seien von dem Grundgedanken getragen „Die Kirche ist nie fertig, das Beste kommt noch.“ Doch dabei ist nicht vom Reich Gottes die Rede, das Jesus verkündigt hat (man denke an das Bonmot: „ ...und gekommen ist die Kirche“), sondern es ist nur von der weiteren Kirchenentwicklung die Rede. Die Kirche, diesen Eindruck muss man haben, ist ein Selbstzweck. Dem System Kirche geht es um Selbsterhalt, letztlich um Macht im Sinne einer Einheitspartei.

 

Luthers 95 Thesen zum Vergleich hatten einen anderen Tenor: Buße. Aber von Buße ist diese heutige Kirche auf dem Weg „zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche“ weit entfernt. Statt Reformation wird es nur weitere „Struktur- und Reformprozesse“ geben mit dem einen Tenor, den diese 12 Leitsätze aussenden: man dreht sich um sich selbst. Um es unverblümt und hart zu sagen: es handelt sich um eine gigantische, neurotische, langweilige Selbstbeschäftigung von Kirche mit Kirche …

 

Es fällt schwer, zu glauben, dass es bei den laufenden „Struktur-und Reformprozessen“ nicht um Zentralisierung und Hierarchisierung geht, sondern um „wechselseitige Stärkung“ (S.29). Denn immer wieder werden die „größeren Einheiten“ (S.25) als notwendig beschworen – bis hin zur EKD der „Gemeinschaftsplattform für alle, die sich zur evangelischen Kirche zählen“, die „für die Gemeinschaft handeln“ will (S.28). Die 12 Leitsätze sollen auch für die „Transformations- und Zukunftsprozesse der Landeskirchen“ (S.28/S.6) Richtlinie sein.

 

((Bei uns im Kirchenkreis, in dem es ja bereits eine fusionierte Großgemeinde gibt, die tatsächlich „Evangelische Kirchengemeinde Zehn Türme“ heißt, konnte unsere Kirchengemeinde zusammen mit der Nachbargemeinde Dickenschied zusammen gerade noch eine Fusion zu einer weiteren Großgemeinde abwehren (die hätte sich dann „Evangelische Kirchengemeinde Elf Türme“ nennen können – hätte doch zu den „Elf Leitsätzen“ der EKD gepasst – aber wir haben das mit Spott überzogen und auf den Trikots unserer Konfirmandinnen und Konfirmanden stand beim Konficup am 29.2.2020 in Kirchberg: „Elf Türme? - Helau!“ - oder sinnigerweise „Lützelsoonblick“ – gibt es doch bereits eine Evangelische Kirchengemeinde Soonblick im Kirchenkreis Simmern-Trarbach!))

 

Auf dem Land sind die Strukturveränderungen hin zu immer größeren Einheiten verheerend. Selbstorganisation und Eigenverantwortung gehen verloren, wo Gemeinden de facto entmündigt werden. Ehrenamtliche geben resigniert auf, weil sie eben nicht mehr unsere Kirche als presbyterial-synodal erleben, sondern als kreissynodal-scheinpresbyterial. Sie können nur noch mehr oder weniger „umsetzen“, was von oben angeordnet wird. Umgekehrt proportional zum Abbau der Pfarrstellen wächst die Verwaltung und am Ende regelt eine Behördenkirche die Geschäfte. Was zur Folge hat, dass Menschen aus dieser Kirche austreten, weil sie ihre Beheimatung in ihrer Ortsgemeinde verlieren, der man ihren Pfarrer oder ihre Pfarrerin genommen hat und schlussendlich eines Tages auch ihre Dorfkirche nehmen wird, weil in der ohnehin keine Gottesdienste mehr stattfinden und sie nur noch als Kostenfaktor gesehen wird.

 

Die Kirche, die unterwegs ist überall zu mehr Gerechtigkeit (Gendergerechtigkeit, Klimagerechtigkeit, Bibel in gerechter Sprache), die zu Recht „sexualisierte Gewalt“ aufarbeitet, ist anscheinend blind gegenüber der „struktualisierten Gewalt“, die sie selbständigen Gemeinden antut. Wenn die sich wehren und Kritik üben, setzen sie sich sogleich dem Vorwurf aus, nicht „solidarisch“ zu sein und Kongregationalismus zu betreiben. Wenn sie sich redlich um die Angelegenheiten um ihren Kirchturm herum bemühen, mit Gewissenhaftigkeit und Liebe ihre Gemeinde pflegen, setzen sie sich dem Vorwurf aus, „nicht über ihren Kirchturm hinaus zu denken“. 

 

Das ist eben auch so ein destruktives Narrativ: das „Kirchturmdenken, das es zu überwinden gilt“. Tiki Küstenmacher könnte es wohl trefflich karikieren, wie sie nun alle auf ihren Kirchtürmen stehen (immerhin besser als auf den Leuchttürmen) und „hinaus in Weite“ schauen, statt sich vor Ort um ihre Kirchengemeinde zu kümmern, um ihren Kirchturm herum aufzuräumen und ihre Hausaufgaben zu machen.

 

Wie lange noch werden Synoden und Kirchenführer die Geduld der Basis missbrauchen? 

 

Zum Beispiel auch dort, wo es um die Zulassung von ausgebildeten Theologinnen und Theologen geht, die nach zwei bestandenen theologischen Examina sich noch einem zentralen Bewerbungsverfahren ausgesetzt sehen müssen, um erst nach diesem Assessment nach abgeleisteten Vorbereitungsdienst Aufnahme in den Probedienst zu finden. Eine handverlesene Jury bewertet sie aufgrund schriftlich eingereichter Unterlagen und zuletzt anhand der persönlichen Präsentation an einem „Bewerbungstag“. An diesem final entscheidenden Tag werden acht Kompetenzen bewertet, mit einem Punktesystem (40 von 60 möglichen Punkten müssen erreicht werden) wird die Zulassung ausgesprochen oder eben verweigert. 

 

De facto und de jure handelt es sich um ein „Drittes Examen“. Eine solche Vorauswahl durch eine Jury schränkt definitiv die Freiheit der Pfarrwahl durch die Gemeinde ein. Das Votum aus der Vikariatsgemeinde, wo gerade z.B. die Kompetenz von Leistung und Belastbarkeit über zwei Jahre hin wahrhaftig besser beurteilt werden konnte als mit der Momentaufnahme eines Bewerbungstages, spielt bei der Freigabe zum Probedienst nur eine marginale Rolle. 

 

So gerade wieder beim letzten dieser Bewerbungstage geschehen, wo ein Kandidat knapp unter 40 Punkten blieb. Dieses Punktesystem mit seiner Umrechnung von Durchschnittsnote – Notendurchschnitt in Punkten und Punkten der Bewerbungsbewertung und der finalen Rundung auf eine Dezimalstelle nach kaufmännischer Art, ist ein eigenes kritisches Studium wert. Am Ende dieses fragwürdigen Systems wird ein junger Theologe ausgemustert, der in unserer Kirche dringend gebraucht wird. Er wird arbeitslos und geht, wenn er sich anderswo mit Erfolg bewirbt, vielleicht unserer Kirche verloren. Und die Gemeinden müssen dabei machtlos zuschauen, wenn ihre Bittbriefe, mehr können sie in diesem System nicht tun, ungehört bleiben.

 

Zwei Beispiele, liebe Schwestern und Brüder, eines von der EKD, eines von der Evangelischen Kirche im Rheinland. Und wenn nun auch, sei es bei der EKD-Synode in Berlin oder im Ausbildungsdezernat in Düsseldorf etwas nachgebessert wird – über diese Fehler im System muss geredet werden, und das nicht nur hinter verschlossenen Türen.

 

Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat festgestellt, dass nicht zuletzt gerade die Krise durch die Corona-Pandemie uns zwingt, uns neu zu überlegen, wie wir uns als Zivilisation weiterentwickeln wollen (zit.n. FOCUS Nr.35 vom 22.8.2020, S.28ff.). Auf unsere Kirche bezogen heißt das: wollen wir endlich wieder mehr Gemeindekirche statt weiter wachsender Behördenkirche, wollen wir wieder mehr Selbstbestimmung und Vielfalt von Ortsgemeinden statt Gleichschaltung mit Top down-Hierarchie nach SED-Manier? 

 

Professor Reinhard Schmidt-Rost hat es heute vormittag ganz klar und hart formuliert: wollen wir evangelische Kirche sein, die in ihrer Gestalt und in ihren Ordnungen - bis hin in die Prüfungsordnung und Bewerbungsverfahren - sich am Evangelium orientiert, ja das Evangelium lebt, oder machen wir mit bei der Botschaft der Gesellschaft in neusteinzeitlicher Manier „Der Stärkere ist der Bessere“. Ich zitiere noch einmal Reinhard Schmidt-Rost: „Soweit sind wir auch heute noch nicht, diesen Grundzug der Selbstbehauptung als Grundzug neusteinzeitlicher Gesellschaften zu erkennen, selbst Kirchenleitungen inszenieren sich noch in der Position des Stärkeren, obwohl ihr evangelischer Grundgedanke der sein müsste, der es in der Praxis vieler Christen auch ist: Nicht der Stärkere ist der Bessere und der Gesellschaft Nützlichere, sondern der, der die Vielfalt des Lebens pflegt und bewahrt.“

 

Unserem Vorstandsmitglied Reinhard Schmidt-Rost ist es übrigens zu verdanken, dass das „Deutsche Pfarrerblatt“ künftig nicht „Deutsches Pfarrblatt“ heißen wird, sondern „Deutsches Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt“. Auf der Mitgliederversammlung in Quedlinburg 2019 kam es – unter etwas unglücklichen Umständen – zum Beschluss der Umbenennung in „Deutsches Pfarrblatt“. Dieser Beschluss konnte aber noch nicht ausgeführt werden, da erst eine Satzungsänderung auf der folgenden Mitgliederversammlung 2020 notwendig war. Reinhard Schmidt-Rost ließ es keine Ruhe. Er recherchierte noch einmal und kam zum Ergebnis, dass der Begriff „Pfarrblatt“ im deutschsprachigen Raum die traditionelle Bezeichnung für den Gemeindebrief in römisch-katholischen Gemeinden bzw. Seelsorgeeinheiten ist. Auch der Begriff „Pfarrbrief“ klingt römisch-katholisch, entsprechende Publikationen in evangelischen Gemeinden heißen dagegen „Gemeindeblatt“ oder „Gemeindebrief“. Auch die Genderfrage würde durch „Pfarrblatt“ in ein eigentümliches Zwielicht gerückt, denn solange Frauen in der römisch-katholischen Kirche nicht zum Priesteramt zugelassen werden, sollte eine evangelische Zeitschrift nicht modernen ökumenischen Bestrebungen zur Gleichberechtigung (vgl. etwa Maria 2.0) in den Rücken fallen mit dem Begriff „Pfarrblatt“. 

 

Dem Antrag des Vorstandes des Evangelischen Pfarrvereins im Rheinland, den Beschluss von Quedlinburg zu überprüfen und die Neubenennung des Deutschen Pfarrerblattes noch einmal zu diskutieren, wurde in Leipzig entsprochen. Mit großer Mehrheit wurde schließlich der Beschluss von Quedlinburg aufgehoben und nach der Suche nach einem eben auch gendergerechten Titel ein neuer Beschluss gefasst. In dem Titel „Deutsches Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt“ kommen die Frauen nun expressis verbis vor, und den Menschen, die sich geschlechtlich in Pfarrerinnen oder Pfarrer so nicht wiederfinden können, wird nun nicht mit einem Gendersternchen * Ausdruck gegeben, dafür aber mit dem Untertitel, den Schriftleiter Dr. Peter Haigis vorgeschlagen hat und der Bestandteil des neuen Beschlusses wurde: „Die Zeitschrift für Menschen im Pfarrdienst“.

 

Ich komme zum Schluß.

 

Der Evangelische Pfarrverein im Rheinland steht für engagierten Einsatz für die Menschen im Pfarrdienst in unserer Kirche. Trotz Pfarrvertretung werden wir immer wieder konkret für Unterstützung angefragt. Gerade im zurückliegenden Jahr stellten wir wieder mehr Beratungsnachfrage fest. Die Überlastung im Pfarrberuf nimmt deutlich zu durch die Reduzierung der Pfarrstellen.

 

Obwohl die Zahlen beim theologischen Nachwuchs stark rückläufig sind und wir andererseits mehr Vereinsmitglieder wegen Austritt aus Alters- und Krankheitsgründen oder eben durch Tod verlieren, ist unser Mitgliederstand über eintausend geblieben. Bitte werben Sie künftig verstärkt für die Mitgliedschaft im Pfarrverein, es lohnt, Mitglied zu sein und es stärkt die notwendige Solidarität in unserem Berufsstand.

 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.