Was wäre wenn... Meditation über die Kirchenordnung

Was wäre, wenn…

Manche Beschwernisse des rheinischen Kirchenlebens werden sich praktisch nicht, zumindest nicht mehr in diesem Leben ändern lassen, weil sie fest in der Kirchenordnung verankert sind. Das dürfte auch der Grund dafür sein, warum man an viele Probleme gar nicht erst herangeht, weil für ihre Lösung die Kirchenordnung geändert werden müsste – und wer will diesen Aufwand schon auf sich nehmen? Aber dennoch lohnt es sich, die Kirchenordnung unter dem Leitgedanken „Was wäre, wenn…“ zu meditieren. Auf diese Weise wird vorstellbar, wie es auch sein könnte. Diese Meditation ist als eine sehr persönliche Phantasie notiert. Man kann die Dinge auch anders sehen. Aber Innovationen fangen immer dort an, wo man es sich Ausmalen und Phantasieren, wie es sein könnte, nicht verbietet. Das könnte ja den einen oder die andere anregen, doch einmal darüber nachzudenken, ob sich die Kirchenordnung nicht doch an der einen oder anderen Stelle auf lange Sicht ändern ließe. Also: Was wäre, wenn…

...Pfarrerinnen und Pfarrer nicht mehr Vorsitzende sein könnten und allenfalls nur noch beratendes Stimmrecht in Presbyterium und Synode hätten?

Pfarrerinnen und Pfarrer sind laut Artikel 49(2) an der Leitung ihrer Kirchengemeinde beteiligt. Sie sind stimmberechtigte Mitglieder des Presbyteriums (Art. 17). Ihre Mitwirkung in Gremien „ist Dienst“ (Art. 49(4)). Entweder der Vorsitz oder der stellvertretende Vorsitz wird durch eine Pfarrperson ausgeübt (Art. 21). Die Einbindung des Pfarramtes in die Gemeindeleitung mag (nieder)rheinischer Tradition entsprechen. Notwendig ist sie aber nicht. So gehören etwa, zum Vergleich, Rabbinerinnen und Rabbiner in einer jüdischen Gemeinde als Angestellte dem Gemeindevorstand nicht an, geschweige denn dass sie den Vorsitz oder stellvertretenden Vorsitz dort ausüben (wie übrigens auch im Präsidium des Zentralrats nicht eine einzige theologische Person sitzt). Die Klage über schlechte Predigten, ausgebrannte, erschöpfte, nicht erreichbare oder stets unter Zeitdruck stehende Kolleginnen und Kollegen könnte doch seinen wichtigsten Grund darin haben, dass sie – laut Kirchenordnung – Aufgaben wahrnehmen sollen, die mit ihrem Beruf eigentlich gar nichts zu tun haben. Sollten wir Pfarrerinnen und Pfarrer eigentlich ein Interesse daran haben, diese Funktionen auszuüben? Wäre es für uns wichtig, dass diese Rollenzuteilung der Kirchenordnung so bleibt, oder hätten wir ein Gewinn davon, wenn wir gewissermaßen „entmachtet“ würden und tatsächlich nur noch die Funktionen wahrnähmen, für die wir als Pfarrerinnen und Pfarrer bestellt sind, also Verkündigung, Sakramentsverwaltung, Unterricht, Seelsorge, Begleitung der Mitarbeitenden, Pflege geistlichen Lebens und theologisches Engagement?

Die Vorteile lägen ja auf der Hand. Wir hätten tatsächlich in sehr viel größerem Maße die Chance, wirklich präsent (auch im Sinne „liturgischer Präsenz“), ansprechbar, erreichbar zu sein. Wir hätten sehr viel mehr Zeit für Menschen, Theologie und geistliches Leben und endlich die Zeit, die wir für wirklich gute Predigten und Gottesdienst-Vorbereitungen bitter nötig hätten. Der Preis wäre: Wir hätten kein Mitspracherecht mehr bei der Aufstellung des Haushaltes, wir hätten wesentlich weniger Einfluss auf Personal- oder Gebäude-Entscheidungen, wir bekämen möglicherweise nicht mehr alles zur rechten Zeit mit, das Presbyterium wäre ein Gegenüber, dem wir nicht wirklich angehören und dem wir rechenschaftspflichtig wären.

Jede(r) von uns wird das unterschiedlich sehen. Es wird Kolleginnen und Kollegen geben, die solche Einflussmöglichkeiten niemals aus der Hand geben würden, die gerade darin auch ein Stück ihrer beruflichen Erfüllung sehen und durchaus lustvoll den Einfluss ausüben, der ihnen dadurch zuwächst, und darauf nur ungern verzichten würden. Aber andere – zu denen ich mich selbst auch zähle – würden aufatmen, weil eine Riesenlast von ihnen abfiele und sie tatsächlich endlich „Zeit fürs Wesentliche“ hätten. Sie könnten nicht mehr für etwas zur Verantwortung gezogen werden, was eigentlich nicht in ihren Verantwortungsbereich gehört. Und es ist keineswegs sicher, dass wir dadurch wirklich weniger Einfluss hätten. Vielleicht sogar mehr.

Aber dann stellt sich natürlich die Frage, wer die Arbeit machen soll, die dann nicht mehr von Pfarrerinnen und Pfarrern wahrgenommen werden kann. Hier zeigt sich das eigentliche Problem. Es wird sich vermutlich erweisen, dass sie in diesen Leitungs- und Verwaltungsfunktion praktisch nicht zu ersetzen sind. Die Verbetriebswirtschaftlichung der Kirche ist ja längst tief ins Pfarramt eingedrungen. Pfarrerinnen und Pfarrer sind, auch wenn sie das gar nicht wollen, zu Funktionärinnen und Funktionären geworden, auf die man gerade nicht wirklich verzichten kann. Irgendwer muss es doch machen, und wer, wenn nicht das ordinierte Personal? Vermutlich würde die „Entmachtung“ des Pfarrpersonals in diesem Sinne an der einen oder anderen Stelle zum Zusammenbruch kirchlicher Arbeit führen. Pfarrerinnen und Pfarrer sind unersetzlich, aber gerade eben nicht in dem, was sie eigentlich ausmacht.

Wenn die Funktionäre, die es zweifellos auch in der Kirche geben muss, nicht mehr durch das theologische Personal gestellt werden könnte, dann würden ganz neue Herausforderungen auf unsere Kirche zukommen. Die Frage ist, ob das nicht geradezu wünschenswert ist und angestrebt werden sollte. Es dürften sich mit Gewissheit Personen melden und zur Verfügung stellen, die über die nötigen Qualifikationen verfügen und die entdecken, dass sie da Verantwortung übernehmen könnten und gebraucht werden. Es würde zu eine spannenden Lastenverteilung kommen, die sich belebend auf das kirchliche Geschehen auswirken dürfte. Das wird nicht der Fall sein wird, wenn die Pfarrpersonen weiterhin die Funktionärsrolle spielen. Sie bleiben weiterhin überlastet. Kaum jemand sonst wird zu motivieren sein, neben ihnen Funktions- und Leitungsaufgaben zu übernehmen, für die sie auch Rechenschaft geben müssten.

...niemand dem Presbyterium angehört, der oder die nicht auch wirklich gewählt worden ist?

Pfarrerinnen und Pfarrer wirken an der Leitung der Gemeinde mit und gehören dem Presbyterium und der Kreissynode auf Grund ihres Amtes an und nicht, weil sie gewählt worden sind. In der Kreissynode sind also rund der Hälfte der der Delegierten nicht gewählt und nicht einmal delegiert, in der Landessynode sind die Superintendentinnen und Superintendenten geborene Mitglieder [1]. Daraus lässt sich nun nicht folgern, dass die anderen gewählt wären. Das dürfte für die wenigsten zutreffen: Nach § 23(4) der Presbyterwahlordnung „kann der Kreissynodalvorstand… dem Presbyterium gestatten, die Wahl nicht durchzuführen. Die Vorgeschlagenen gelten als gewählt.“ In diesem Fall hat kein Gemeindeglied Gelegenheit, auf die Zusammensetzung des Presbyteriums Einfluss zu nehmen. Es geht noch weiter: Nach § 33 und 34 können frei gewordene Sitze im Presbyterium durch „Kooptation“, d. h. durch eine geheime Wahl durch die Mitglieder des Presbyteriums mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden. Man stelle sich vor, ein Gemeinde- oder Stadtrat oder der Bundestag würde sich in einem solchen Fall selbst ergänzen – das wäre völlig undenkbar!

Undenkbar wäre im politischen Leben auch die fehlende Öffentlichkeit der parlamentarischen Zusammenkünfte, wie das bei Presbyteriumssitzungen üblich ist, auch wenn die Öffentlichkeit per Beschluss hergestellt werden kann (Art 23(3) KO). Nach Artikel 24 sind die Presbyterinnen und Presbyter „in allen Angelegenheiten, die ihnen in Ausübung ihres Amtes, insbesondere in seelsorglichen Zusammenhängen, bekannt werden, oder die ihrer Natur nach vertraulich sind oder als solche bezeichnet sind, zur Verschwiegenheit verpflichtet, auch wenn sie aus ihrem Amt ausgeschieden sind.“ Das bedeutet, dass ein Presbyterium praktisch frei entscheiden kann, was aus den Sitzungen in die Öffentlichkeit gelangen kann und was nicht. Es ist damit überhaupt kein Problem, sich in kritischen oder konfliktträchtigen Situationen gegen die Öffentlichkeit abzuschotten! In einem Leitfaden für Presbyteriumssitzungen lesen wir: Die Mitglieder des Presbyteriums sind grundsätzlich zur Verschwiegenheit verpflichtet, alle anderen sollten darauf bei Bedarf hingewiesen werden. Presbyteriumssitzungen sind anders als manche Ratssitzungen grundsätzlich nicht öffentlich, dennoch kann z. B. im Gemeindebrief, bei gottesdienstlichen Abkündigungen oder auf der Homepage von den Dingen berichtet werden, die für die übrige Gemeinde interessant und wichtig sind.“[2] Entscheidend ist hier das Wort: „kann“. Die Gemeindeöffentlichkeit „kann“ informiert werden. Sie muss es aber nicht. Das Leitungsgremium muss sich ihr nicht stellen, wenn es unbequem wird oder wenn es etwas zu verbergen gibt. Genau das ist das Problem. Die Intransparenz presbyterialer Arbeit ist damit schon in der Kirchenordnung festgeschrieben. Wenigstens sollte man meinen, dass das Presbyterium dann aber vor der Gemeindeversammlung Rechenschaft ablegen muss, so wie das in jedem eingetragenen Verein auch geschieht, wobei der Vorstand zwingend im Anschluss an Rechenschafts- und Kassenbericht per Beschluss entlastet werden muss. Nach Artikel 35 soll aber lediglich „über die Arbeit der Kirchengemeinde und über die Gesamtlage der Kirche“ – also nicht über die Arbeit des Presbyteriums! – „berichtet und beraten“ werden. Anträge kann eine Gemeindeversammlung nicht stellen, lediglich sind die Ergebnisse der Gemeindeversammlung festzuhalten und sollen im Presbyterium beraten werden, worüber in der Gemeindeöffentlichkeit dann „in geeigneter Weise“ berichtet werden soll.

Welche Auswirkungen das auf die Kirchenkreis- und landeskirchliche Ebene hat, will ich hier aus Platzgründen überspringen. Es dürfte aber jetzt schon mit Händen zu greifen sein, dass von demokratischen Verhältnissen im kirchlichen Leben wahrlich nicht die Rede sein kann. Das Erschütternde daran ist, dass dies nicht einmal beabsichtigt ist! In der Gründungsphase der Rheinischen Landeskirche hat man sich ausdrücklich vom Begriff der Demokratie distanziert. Rudolf Harney, damals Präses der Rheinischen Provinzialsynode, stellte 1946 im Zuge der Gründung der neuen Landeskirche fest:
„Wir denken in der Kirche presbyterial, nicht demokratisch. Demokratie ist kein biblischer Begriff. Damit sind wir noch nicht Feinde der Demokratie, aber Demokratie ist ein politischer Begriff,… Wir haben Erfahrungen hinter uns, die uns gelehrt haben, wie gefährlich es ist, dem politischen Denken und Handeln Einfluss im Raum der Kirche zu gewähren. Die Kirche hat sich eine Ordnung zu geben, die an der Schrift orientiert ist. Wir sind um des Wesens der Kirche willen abgesagte Feinde ihrer Verpolitisierung. Im politischen Raum hat die Demokratie ihr Recht, im kirchlichen Raum nicht.“[3]

Es hatte laut Hellmut Zschoch bereits 1835 und 1923 Versuche gegeben, in der Rheinprovinz die presbyterial-synodale Ordnung zu etablieren, aber gleichwohl konnte man sich obrigkeitlichen, d. h. staatlichen und konsistorialen Einflüssen nicht ganz entziehen. Nun aber, 1946, sollte sie vollständig etabliert werden, frei von politischen Einflüssen. Man meinte, deswegen auf Begrifflichkeiten verzichten zu müssen, die im politischen Raum beheimatet sind. Man wollte, so zitiert Zschoch Stimmen auf der damaligen Synode, den erneuten „Einbruch des politischen Geistes“ als „Einfallstor der Unkirchlichkeit“ verhindern, und „politische Wahlmethoden“ nicht in den Raum der Kirche übertragen. Es ist geradezu tragisch, dass diese Abstinenz von politischer Begrifflichkeit ausgerechnet den Begriff der Demokratie trifft, da es ja gerade nicht demokratische Bestrebungen waren, die die Kirche unter staatliche und konsistoriale Bevormundung stellten. Seitdem hört mein gleichwohl in der Rheinischen Kirche immer wieder die stehende Redewendung: Wir sind ja nicht demokratisch, sondern presbyterial-synodal aufgestellt. Wenn aber „presbyterial-synodal“ nicht dasselbe wie „demokratisch“ sein soll, wo liegt der Unterschied? Mit Hilfe welcher Kriterien lässt sich eine presbyterial-synodale Ordnung überprüfen, die nicht auch für jede demokratische Ordnung gelten müssten? Statt von einer demokratischen von einer christokratisch begründeten – „an der Schrift orientierten“ – Ordnung zu sprechen (Zschoch, S. 14) führt auch nicht weiter: Hier werden die verschiedene Ebenen – die des Bekenntnisses (etwa im Sinne von Barmen III) und die der rechtlichen Definition – vermischt, so dass es keine klaren Kriterien gibt, mit denen man dies überprüfen könnte. Die Folge davon ist Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse. Es kann mit demokratisch sauberen Entscheidungsvorgängen nicht mehr verlässlich gerechnet werden und es ist zu vermuten, dass sich hinter der Berufung auf presbyterial-synodale Prinzipien reichlich Willkür verbirgt.

Demokratisch wäre, wenn Mitglieder von Presbyterien und Synoden wirklich gewählt würden. Da das häufig nicht der Fall ist, vertreten solche Presbyterinnen und Presbyter bzw. Synodale niemanden und niemandes Interesse. Sie sind niemandem Rechenschaft schuldig. Sie müssen denen, die sie gewählt haben, nicht Rede und Antwort stehen, die gibt es ja nicht. Sie haben von niemandem einen Auftrag bekommen. Sie mussten ja niemanden überzeugen, um gewählt zu werden. Anders als Parlamentarier oder auch einfach nur Mitglieder eines Vereinsvorstandes können sie ihr Mandat von einem auf den nächsten Augenblick verlassen, und sei es, weil sie einfach keine Lust mehr haben – niemand wird sie je wieder behelligen. Und sollte ein Presbyterium tatsächlich einmal arbeitsunfähig sein, beruft der KSV dann eben einen Bevollmächtigtenausschuss ein, der sich demokratischer Legitimation erst recht nicht stellt. Mit anderen Worten: ein Großteil der Mitglieder kirchlicher rheinischer Entscheidungsgremien muss nicht wirklich Verantwortung übernehmen. Sie können sich ihr jederzeit einfach und problemlos entziehen. Es wird sich schon jemand finden lassen, der für sie einspringt, oder eben auch nicht.

Dass Menschen mit echten Kompetenzen und Fähigkeiten und mit der Ambition, ihr Können auch unter Beweis zu stellen, kaum ein Interesse daran haben, solche Ämter anzustreben, liegt auf der Hand. Wer keine echte Verantwortung übernehmen kann, der kann ich auch nichts bewirken und dem wächst auch, als berechtigtem Lohn für die Mühen, keine öffentliche Anerkennung zu. Noch gravierender ist die Frage, wie solche demokratisch ausgesprochen schwach legitimierten Gremien die Kirchenkreisvorstände und die Kirchenleitung kontrollieren wollen. Es dürfte wahrlich keine Kunst sein, diese Gremien so zu steuern, dass die nicht wirklich merken, was da vor sich geht. Wenn deren Mitglieder sich tatsächlich der Wahl stellen müssten, d. h. also auch damit rechnen müssen, nicht gewählt oder abgewählt zu werden, sähe die Sache ganz anders aus! Wenn sie Rechenschaft ablegen und Auskunft geben müssen, was sie in ihrer Zeit als Mitglied des Leitungsgremiums getan und unterlassen haben, würden sie wohl sehr viel genauer darauf schauen, was die kreis- oder landeskirchliche Leitung gerade tut, die dann nicht mehr so ohne weiteres schalten und walten könnte.

Damit sind wir aber noch nicht am Ende der Problematik angelangt. Sie verschärft sich noch einmal.

...Beschlüsse im Presbyterium nicht mehr einmütig gefasst werden müssten?

Dass es wie im öffentlichen Leben auch in der Kirche Machtkämpfe, Konflikte, Rivalitäten, Kampfabstimmungen, Spaltungen und gegenseitiges Misstrauen gibt, ist offensichtlich. Die Frage ist, ob es sie auch geben darf. Anders formuliert: Ist es schlimm, wenn es in einem Leitungsgremium zu Streit kommt? Oder muss er in jedem Fall vermieden werden? Folgt man den Anweisungen der Kirchenordnung, dann ist Streit eigentlich nicht vorgesehen und es zumindest etwas anrüchig, wenn es dazu kommt. Laut Artikel 27, 106, 118, 142, 155 und 160 der Kirchenordnung sollen sich die Leitungsgremien der Rheinischen Kirche „bemühen“, ihre „Beschlüsse einmütig zu fassen“. Was jedoch „einmütig“ ist bzw. wann eine Entscheidung einmütig getroffen wurde und wann nicht, lässt sich nicht exakt beschreiben, abgesehen davon, dass die Beschlüsse in dieser Weise nur gefasst werden sollen. Wenn aber eine genaue Beschreibung dessen, was gemeint ist, nicht möglich ist, warum steht diese Bestimmung gleich sechsmal in der Kirchenordnung? Der schon genannte „Leitfaden zur Vorbereitung und Durchführung von Sitzungen im Kirchenvorstand“ versucht, diese Frage zu klären. Wir lesen zunächst: „Es bedeutet…, dass alle Mitglieder zu den gemeinsamen getroffenen Beschlüssen stehen, unabhängig davon, wie sie persönlich abgestimmt haben“ [4]. Ein solches Verhalten ist für demokratische Entscheidungsprozesse selbstverständlich – dafür wie auch für die später folgenden Ratschläge für eine gute Beschlussvorbereitung wird die Einmütigkeitsforderung nicht benötigt. Aber im nächsten Satz wird die Katze aus dem Sack gelassen: „Es bedeutet auch, dass abweichende Meinungen oder interne Auseinandersetzungen nicht an Dritte weitergegeben werden.“ Mit anderen Worten: Wer bei einem Beschluss des Presbyteriums, der in der Regel nicht in geheimer Abstimmung erfolgt (Artikel 27(3)), dagegen gestimmt hat, der hat gefälligst über seine abweichende Meinung für immer zu schweigen. Gab es interne Auseinandersetzungen, darf davon unter keinen Umständen etwas nach außen dringen. Fliegen also in der Sitzung die Fetzen, soll das Presbyterium nach außen so tun, als wären alle Beschlüsse in großer Einigkeit getroffen worden, unabhängig davon, wie es wirklich war. Wenn das wirklich mit „Einmütigkeit“ gemeint sein sollte, dann ist die Heuchelei in der Kirchenordnung gewissermaßen vorprogrammiert.

Das Schlüsselproblem liegt darin, dass auch hier die Ebenen vermischt werden. Die Einmütigkeitsforderung wird nicht in der Sprache des Rechtstextes, sondern als moralischer Appell formuliert. Rechtlich ist nicht überprüfbar, ob die Einmütigkeit gegeben ist oder nicht. Das hat zur Folge, dass die Auseinandersetzung von der Sachebene auf die Beziehungsebene verlagert wird, also nicht mehr sachlich, sondern emotional geführt wird. Statt eine wenn auch umstrittene Sachentscheidung zu treffen, steht plötzlich der ein- oder gegenseitige Vorwurf ausgesprochen oder unausgesprochen im Raum, die Einmütigkeit zu verletzen: Wer dagegen ist, verstößt gegen die Einmütigkeit. Wenn dann über die so entstandene Situation nach außen auch noch Stillschweigen gewahrt werden soll – und es ist in aller Regel zu erwarten, dass gerade das nicht geschieht – dann wird der Konflikt, statt ihn zu entscheiden, dauerhaft verfestigt. Die Tendenz einen Streit zu vermeiden, statt zu entscheiden und damit für lange Zeit schwelen zu lassen, ist in kirchlichen Kreisen ausgeprägt, was von vielen bestätigt würden dürfte. Die Folge davon sind die vielen, fast schon vertrauten, über lange Zeiten hinweg ungelösten und verhärteten Konflikte, die oft erst mit der räumlichen Trennung der handelnden Personen und dem Abbruch der Kommunikation im Sande verlaufen.

Der Stärke von Demokratie ist nicht, den Streit zu vermeiden, sondern ihn zu klären und zu entscheiden. Dass allzumal gestritten wird, ist dabei als Normalzustand vorauszusetzen. Dabei wird es immer wieder Sieger und Verlierer geben. Streit, Auseinandersetzungen, auch Machtkämpfe und Kampfentscheidungen dürfen sein – auch in der Kirche. Es muss die Möglichkeit geben, sich ggf. „durchzusetzen“, was voraussetzt, dass man den Machtkampf auch verlieren kann und sich dann damit abfinden muss. Es muss auch möglich sein, den Streit in der Gemeindeöffentlichkeit auszutragen, denn die hat schlicht einen Anspruch darauf, zu erfahren, was im Leitungsgremium oder zwischen anderen handelnden Personen umstritten ist. Oft können nur so längst fällige Änderungsprozesse in der Kirche in Gang gesetzt werden. Die kirchliche Neigung, über gerade herrschende Konflikte den Mantel des Schweigens zu werfen, sorgt für die im Raum der Kirche oft anzutreffende, sich auf alles wie Mehltau legende Atmosphäre verborgenen Misstrauens.

Fazit

Wenn man Gisela Kittels Überlegungen zu „Anrufung des Namen Gottes inmitten einer gottvergessenen Welt“ in diesem Heft [5] in die Betrachtung mit einbezieht, könnte man es so formulieren: Erst wird dem Pfarrpersonal die Gemeinde- und Kirchenleitung aufgedrückt und man lässt Leute Entscheidungen treffen, für die sie niemand gewählt hat. Das wird sorgfältig vor der Öffentlichkeit abgeschirmt und man sorgt vergeblich dafür, dass von den drinnen schwelenden Konflikten nichts nach außen dringt und tut so, als würde alles einmütig ablaufen, was einem natürlich niemand abnimmt. Dann wundert man sich, dass die öffentlichen Sonntagsgottesdienste so schlecht besucht sind und stellt schließlich fest, dass sie sich für die paar Leute nicht mehr lohnen. Man hofft, die Kirche damit retten zu können, indem man meint, sie an den Gemeinden vorbei und – durchaus im Doppelsinn des Wortes – von oben herab durch allerhand zielgruppenorientierte Gottesdienste ersetzen zu können.

Wir müssen umsteuern. Das wird natürlich nicht von einen auf den anderen Tag gehen, da die Probleme, wie dargestellt, in der Kirchenordnung verankert sind. Aber wir müssen wissen, wo wir hinwollen und diesen Weg Stück für Stück konsequent gehen. Entscheidend dafür wird sein, die Hoheit und Unabhängigkeit der Ortsgemeinde zu gewährleisten. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sich Menschen mit Kompetenzen, Ambitionen und Herzblut mit ihr identifizieren und dafür interessieren, Verantwortung zu übernehmen und etwas bewirken zu wollen – und auch dafür, dass die Motivation, sie zu wählen, deutlich zunimmt. Das wird die Gemeinden einem tiefgreifenden, aber unvermeidlichen Wandel aussetzen. Sie dürfen nicht länger die von oben gesteuerten Unterabteilungen der Kirchenkreise sein. Es stellt sich die Frage, ob die Definition einer Gemeinde durch eine Region oder durch territoriale Grenzen noch zeitgemäß ist und ob sie sich nicht besser statt auf ein Gebiet auf den Ort bezieht, an dem sie ihre Gottesdienste feiert. Es ergibt keinen Sinn, die Mitgliedschaft in einer Gemeinde in der Regel vom Wohnsitz abhängig zu machen statt von der eigenen Entscheidung, dieser Gemeinde angehören zu wollen. Gemeinden müssen sich selber gründen oder auflösen, vereinigen oder aufspalten, kooperieren oder konkurrieren können. Die übergeordneten Leitungsebenen haben kein Recht, sich in solche Entscheidungen einzumischen, sie haben lediglich beratende, aufsichtliche, konfliktregulierende und repräsentative Funktion.

Nach meiner Einschätzung geht kein Weg mehr daran vorbei, einen solchen Weg zu gehen. Und die EKD-Funktionäre, die meinen, mit ein bisschen Management, betriebswirtschaftlichem Knowhow und Digitalisierungsphantasien das Ganze in den Griff zu kriegen, schicken wir getrost nach Hause.

 



[1] Diese „Bestimmung der RWKO (= Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung von 1835, St. St.) zur Zusammensetzung der Provinzialsynode ist… eine Nachwehe der staatlichen Bestimmungen von 1817, die das Theologenelement auf den Synoden eindeutig bevorzugten – insofern stammte die geborene Mitgliedschaft der Superintendenten in der Provinzialsynode in ihrem Ursprung tatsächlich aus der preußisch-konsistorialen Tradition. Andererseits ist aber zu bedenken, dass das rheinisch-westfälische Superintendentenamt seit 1835 seine Legitimation aus der Wahl durch die Kreissynode bezog. (Metzing, Andreas, Warum sind die Superintendenten geborene Mitglieder der Synode? https://blog.archiv.ekir.de/2019/11/20/warum-sind-die-rheinischen-superintendenten-geborene-mitglieder-der-landessynode/

[2] Böhlemann, Peter, Leiten im Presbyterium. Ein Leitfaden zu Vorbereitung und Durchführungen von Sitzungen im Kirchenvorstand, 2018. (https://www.ekir.de/gender/Downloads/Leiten-im-Presbyterium.pdf)

[3] Zschoch, Hellmut, Die presbyterial-synodale Ordnung, 2006, S. 5:
https://www.ekir.de/www/downloads-archiv/VortragPresbyterial-synodaleOrdnung.pdf

 

[4] A. a. O., 11 (auch folgendes Zitat)

[5] Seite… bis …