Vox populi vox dei

Hans A. Rosenboom

 

Wählen oder Berufen

 

Wenn Amtsträger in einer protestantischen Kirche gewählt sind und der Synode oder einer anderen Versammlung  vorgestellt werden, tituliert man sie gerne als Berufene. Eine Mischform aus Berufung und Wahl erscheint schon im Alten Testament, wo von Saul, dem ersten König Israels, berichtet wird, daß Gott ihn beruft, durch Samuel salben läßt und das Volk ihn wählt, genauer: lost. Der Wunsch Israels nach einem König, „wie ihn alle Heiden haben“, mißfällt Samuel. Gott fühlt sich gekränkt durch das Volk, „daß ich nicht mehr König über sie sein soll.“ (1. Samuel 8, 1-9; 10, 20-24). Berufung und Wahl ist hier ein Doppel-Akt. Wobei nicht verschwiegen wird, daß der Ausgang des Losverfahrens von Gott vorherbestimmt ist, nach der Regel: „Der Mensch wirft das Los; aber es fällt, wie der Herr will.“ (Sprüche 16,33).

Protestantismus und Demokratie in Deutschland

 

Vierzig Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft - reichlich lange - brauchte der deutsche Protestantismus, um in der Denkschrift „Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ (1985) seine Position zur Demokratie zu beschreiben. Vom Luthertum suchten sich diejenigen Strömungen in der evangelischen Theologie abzugrenzen, die das reformierte und das brüderkirchliche Erbe der Bekennenden Kirche pflegten. Sie wollten die demokratische Staatsform theologisch eigens würdigen und taten dies - mißverständlicher Weise - mittels der monarchischen Metapher der „Königsherrschaft Jesu Christ“. Die Ablehnung lutherischer Staatsmetaphysik drängte diese Kreise um Karl Barth und Ernst Wolf zu einem pragmatisch-funktionalen Staatsverständnis. Was die kirchlichen Wahlordnungen angeht, blieb jedoch eine Skepsis gegenüber Gemeinde-entscheiden deutlich spürbar, auch nach Revisionen der Kirchenordnungen in der Nachkriegszeit. Das hatte seinen Grund in dem Trauma von 1933, als Hitler den Protestanten Kirchenwahlen in den Ortsgemeinden verordnete, mit dem Ergebnis, daß viel Ortskirchenvorstände braun unterwandert wurden.

 

Darüber hinaus gibt es nach wie vor biblisch-theologisch begründbare Vorbehalte gegen Demokratie. Denn Demokratie ist Volksherrschaft und kommt ohne Billigung Gottes aus, fürchtet auch seine Mißbilligung nicht. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776) und die französische Revolution (1789) haben eine Begründung der heutigen staatlichen Demokratie geschaffen. Ihr zufolge duldet die Nation keine metasoziale Begründung. Die Nation ist „die Inhaberin des subjektiven Souveränitätsrechts.“ (Voltaire). Vox populi vox dei - Diese Feststellung wurde von Vertretern der Aufklärung zur Behauptung der Volksautonomie formuliert. Theologen dürften diesen Satz als allerletzte unterschreiben und erinnern daran, daß es auch heute Verfassungen gibt, die den Namen Gottes erwähnen. Gerne wird auch das Böckenförde-Diktum von 1967 bemüht: „Der freiheitlich säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ Wobei Theologen ungefragt für sich in Anspruch nehmen, Auskunftgeber für extrasäkulare Vorgegebenheiten zu sein.

 

Summepiskopat

 

Bis 1919 gab es in Deutschland 23 Monarchien und drei Republiken. Die heute existierenden 20 protestantischen Landeskirchen haben sich weitgehend in den Grenzen der alten Herrschaftsgebiete erhalten. Erinnert sei an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. Als eine Delegation aus Abgeordneten der Frankfurter Paulskirche 1849 nach Berlin kam und ihn bat, die Kaiserkrone des Deutschen Reiches anzunehmen, antwortete er: „Jeder deutsche Edelmann, der ein Kreuz im Wappen führt, ist hundertmal zu gut dazu, um solch ein Diadem aus Dreck und Letten der Revolution . . . anzunehmen.“ (gemeint war: aus den schmutzigen Händen des Volkes). Ein Hauch von Zweifel an der Kompetenz des Kirchenvolks bei der Vergabe von Ämtern und bei dogmatischen Entscheidungen durchweht noch heute protestantische Kirchenordnungen.

Den Summepiskopat des Königs oder Fürsten von Gottes Gnaden gibt es in Deutschland seit 1919 nicht mehr. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches  gelang die Revolution, zum Entsetzen der protestantischen, mehrheitlich deutsch-national gesonnenen Geistlichkeit. Seit dem haben die protestantischen Gläubigen und die Konsistorien als Abteilungen der königlich/fürstlichen Verwaltung ihre deo gratia gekrönten Häupter verloren. Geblieben ist aber der Habitus und die Struktur deutscher protestantischer Kirchenleitungen, unmittelbar „von Gottes Gnaden“ zu sein. Es gibt zwar keine apostolische Succession innerhalb des geistlichen Standes, aber gewissermaßen eine consistoriale, in die auch der juristische Stand mit einbezogen ist. Selbst die vielgelobte (meistens im Selbstlob) synodal-presbyteriale Ordnung der Evang. Kirche im Rheinland, die sich in ihrer Leitungsstruktur formal von unten nach oben aufbaut, hat in praxi obrigkeitliche Merkmale. Staatskirchen konnten die evangelischen Kirchen in Deutschland nach 1919 nicht bleiben, aber als Volkskirchen blieben sie und ihre Gemeinden nach eigenem Verständnis Gebietskörperschaften, Parochien. Wer evangelisch getauft ist, wird automatisch der Parochie seiner Kirchengemeinde, die sich in der Regel mit den kommunalen Grenzen deckt, zugeordnet. Anders die evang. lutherische Landeskirche Hannover. Sie hat sich zum 1. Januar 2020 eine neue Verfassung gegeben. Artikel 19 bestimmt: Die Kirchengemeinde „kann als Ortsgemeinde, aber auch als Personalgemeinde gebildet werden.“

 

Zugeordnet oder erwählt

 

Neben einer staats- bzw. kirchenrechtlichen Definition von Gemeindezugehörigkeit gibt es eine theologische, hier wiedergegeben in der Erklärung des Heidelberger Katechismus. Er beantwortet die Frage: „Was glaubst du von der heiligen, allgemeinen, christlichen Kirche? Daß der Sohn Gottes aus dem ganzen menschlichen Geschlecht sich eine auserwählte Gemeinde zum ewigen Leben, durch seinen Geist und Wort, in Einigkeit des wahren Glaubens von Anbeginn der Welt bis ans Ende versammle, schütze und erhalte und daß ich derselben ein lebendiges Glied bin und ewig bleiben werde.“ (Frage und Antwort 54). Das bedeutet: Die theologische Definition der Gemeindezugehörigkeit heißt Erwählung durch Christus. Die staatsrechtliche Definition von Gemeindezugehörigkeit ist eine deutsche und skandinavische Besonderheit. Zu der theologischen bekennt sich die gesamte WGRK1 und auch die Evang. Kirche im Rheinland. Die Definition kirchlicher Ordnungen in Deutschland allerdings changiert zwischen irdischen und himmlischen Beschreibungen. Dadurch entsteht der Eindruck, daß die Kirchenordnung am Himmel befestigt und nicht auf Erden begründet ist.2bevollm

Wie wird man Presbyter*in oder Landtagsabgeordnete*r?

 

Das zeigt sich z.B. daran, daß das Presbyteramt nach der Wahl übertragen wird, vom Herrn der Kirche durch seinen verordneten Diener, sprich den Pfarrer, bzw. die Pfarrerin. Er oder sie ist als einzige(r) geborenes Mitglied des Presbyteriums. Modell für diese Art der Wahl und Amtseinsetzung ist die Wahl der sieben Armenpfleger in Apg 6. Wirksam wird deren Wahl durch Handauflegung der Apostel; heute - bei Einführung der neuen Presbyter - auch schon mal durch Handschlag des Pfarrers. Auf vergleichbare Weise wird auch der zwölfte Apostel nachgewählt. Zwei Männer werden vorgeschlagen. Sie „beteten und sprachen: Herr, der du aller Herzen kennst, zeige an, welchen du erwählt hast von diesen beiden. . . Und sie warfen das Los über sie, und das Los fiel auf Matthias.“ (Apg 1, 23 ff). Klar ist, wer hier entschieden hat: „Der Mensch wirft das Los; aber es fällt, wie der HERR will.“(Sprüche 16,33)

 

In einem weltlichen Parlament gibt es keine von Gott vorbestimmten  und auch keine geborenen Mitglieder, außer im House of Lords in Großbritannien. Vor der Wahl hat das amtierende Presbyterium die Zahl der Mitglieder dieses Gremiums festgestellt, bzw. nach eigenem Ermessen über die von der KO geforderte Mindestzahl hinaus erweitert. Es gibt folglich keine Überhangmandate, wie sie bei kommunalen Wahlen entstehen können. Ist jemand, etwa bei einer Landtagswahl, durch Stimmenmehrheit gewählt, kann ihm kein Wahlleiter sein errungenes Mandat verwehren, auch wenn es zu einer Vermehrung der Sitze im Parlament führt. Er ist vom Volk gewählt und bevollmächtigt.3

 

Scheidet in einem kommunalen Parlament jemand während der Wahlperiode aus, rückt der nach, der die nächstmeisten Stimmen bei der voraufgehenden Wahl erzielt hat. Scheidet jemand während der Wahlperiode aus einem Presbyterium aus, kooptiert das Presbyterium einen Nachfolger und ist dabei nicht an das vorausgegangene  Wahlergebnis gebunden. Auf vielen kirchlichen Ebenen besteht bei Gremien neben den Wahlen die Möglichkeit  zusätzlicher Berufungen bzw. Kooptation durch das etablierte Gremium; d.h. es reproduziert sich zu einem Teil selbst, ein undemokratischer Zug, weil das Gemeindevolk daran nicht beteiligt ist.

 

Minderheit und Opposition

 

Ein wesentliches Element der staatlichen Demokratie ist die konstitutionell gesicherte Existenz der Minderheit im Parlament. Die Minderheit im Parlament ist nicht ein formloses Konglomerat von Dissidenten. Sie kann sich vielmehr als Opposition genau so organisieren, die Verwaltung in Anspruch, Einsicht in die Akten nehmen, etwa zu einer Gesetzesvorlage, und vom Rederecht nach Maßgabe ihres Sitzanteils im Parlament Gebrauch machen wie die Regierung und die sie tragenden Parteien. In kirchlichen Gremien entsteht Opposition am ehesten auf einer Landes- oder Kreissynode, informell, meistens ad hoc zu einem bestimmten Thema, nicht immer vorhersehbar und in der personellen Zusammensetzung nicht von Dauer. Die Figur des einsamen Rufers in der Wüste, der gegen irgend etwas warnend die Stimme erhebt, findet sich auf vielen Synoden, bewirkt aber wenig. Die einzige mir bekannte Synode in Deutschland, in der Opposition sich konstitutionell etablieren kann, ist die der Württembergischen Landeskirche mit ihren „Gesprächskreisen“. Die württembergische Landeskirche kennt auch als einzige die Urwahl zur Landessynode. Erst recht in einem kleinen Gemeinde-presbyterium von etwa zehn Leuten ist Opposition oder Meinungsvielfalt nach parlamentarischen Muster nicht darstellbar. Das hat seine Gründe:

 

Wie kommt man auf die Kandidatenliste?

 

Selten wird ein Presbyter-Kandidat oder eine Kandidatin ohne Wissen des Gemeindepfarrers vorgeschlagen. Er ist es vielmehr, der, oft nach langem Bitten, ein Gemeindeglied überreden kann zu kandidieren. Nicht selten kommt es vor, daß er es dabei bewenden läßt, nur so viele Kandidaten zu animieren, wie gebraucht werden. Dann fällt die Prozedur der Wahl aus, und die Vorgeschlagenen gelten als gewählt. Siehe Ergebnis der letzten Presbyteriums-wahlen in der Rheinischen Kirche 2012 und 2016.4 Gewinnt der/die Pfarrer*in einen Kandidaten mehr, als zu wählen sind, fällt unweigerlich einer durch, und der Pfarrer hat gegenüber dem nicht Gewählten das ungute Gefühl, ihm eine Niederlage bereitet zu haben, bzw. der Durchgefallene fühlt sich zwecks Wahrung des demokratischen Scheins als Kandidat mißbraucht. Das Aufstellen von einem Kandidaten mehr als erforderlich, womit zugleich eine*r das Stigma des Durchgefallenen auf sich nehmen muß, führt - ironischer Weise -

oft dazu, daß der Pfarrer Gefahr läuft, hinterher in der Gemeindearbeit eine Ehrenamtliche bzw. einen Ehrenamtlichen weniger zu haben. Aber dieses Manko ist für viele Pfarrer*innen immer noch leichter zu ertragen als das Odium, eine Wahl vermieden zu haben.

 

Das Ergebnis der Presbyteriumswahl in der Evang. Kirche im Rheinland, am 14.02.2016, lautet: In 40% der Gemeinden fand eine Wahl statt. In einem Drittel dieser wählenden Gemeinden wurde ein Kandidat mehr als nötig aufgestellt, in einem weiteren Drittel wurden zwei Kandidaten mehr als nötig und im letzten Drittel mehr als zwei aufgestellt. In 60% der Gemeinden erübrigte sich eine Wahl.

 

Von oben nach unten

 

Ein weiterer Grund dafür, daß sich in einem Presbyterium keine ordentliche - im Sinne kommunaler Parlamente - Opposition oder Meinungsvielfalt artikulieren kann, ist, daß ein Pfarrer kein Gemeindeglied zur Kandidatur überreden wird, von dem er von vorn herein weiß: Die Frau oder der Mann wird mir Schwierigkeiten machen. Darum ist es nicht falsch, wenn man sagt: Das gemeindeleitende Gremium kommt durch das Bemühen des Pfarrers zustande, Gemeindeglieder zu finden, mit deren Hilfe er seine Vorstellungen von Gemeindeleben durchsetzen kann. Es ist ein Findungsprozeß von oben nach unten, nicht umgekehrt. Der Vorgang gleicht eher einer Kabinettsbildung der Bundesregierung als einer Wahl durch das Volk. Wobei sich die Kanzlerin die Minister der Koalitionsparteien nicht einmal aussuchen kann.

 

Einmütigkeit

 

Ein dritter Grund, warum sich in einem Presbyterium nur schwer eine reguläre Opposition bilden kann, ist der kirchliche Grundsatz der Einmütigkeit. „Das Presbyterium soll sich bemühen, seine Beschlüsse einmütig zu fassen.“ (KO 27). Schon der Begriff diskreditiert abweichende Standpunkte. Üblicherweise kann ein Beschluß noch als einmütig bezeichnet werden, wenn allenfalls ein, zwei Stimmenthaltungen zu verzeichnen sind. Der magnus consensus - von dem irenisch gesonnenen Melanchthon 1530 in die CA ( Confessio Augustana) eingebracht - ist das Ideal kirchlicher Willensbildung, eine Vorwegnahme himmlischer Glückseligkeit: „Im Reich Gottes! Da ruht der Streit, da währt die Freud heut, gestern und in Ewigkeit“ (eg 256,3). Dem Prinzip der Einmütigkeit entspricht das Gemeindebild aus dem Epheserbrief „Christus als Gemeinde existierend.“ Wer die Einmütigkeit oder konkret gesagt: das Gemeindeestablishment in Gestalt des Pfarrers und seines Presbyteriums in Frage stellt, der "spaltet die Gemeinde“, oder - wie es pathetisch aus dem Munde von Kirchenleitungen gegenüber den Pfarrern und Gemeindegliedern der Bekennenden Kirche im Dritten Reich hieß - der „zerreißt den Leib Christi.“

 

Der Anteil von Stimmenthaltungen ist vermutlich bei Abstimmungen in kirchlichen Gremien vergleichsweise hoch, anders als in kommunalen Gremien. Warum? Weil Neinsager fürchten müssen, sich zu isolieren - sie haben keinen Rückhalt in einer Partei -, die Harmonie zu stören, aus dem Nest zu fallen, ihren Pfarrer zu enttäuschen. „Denn er hat mich doch überredet, für das Presbyteramt zu kandidieren“, und er erweist sich in der Regel als der Führer der Mehrheit. Daher: Wenn man schon Bedenken hat: Lieber sich enthalten als mit Nein stimmen.

 

Die Wahrheit des Glaubens steht fest

 

Der letzte und allen anderen vorausliegende Grund für die Tabuisierung von Opposition und das Unbehagen bei Meinungsvielfalt in kirchlichen Gremien ist ein theologischer. Die Wahrheit des Glaubens, dokumentiert in der Schrift alten und neuen Testaments, steht fest und ist in Bekenntnisschriften definiert. In der protestantischen Kirche und Theologie geht es immer nur um Auslegung der Heiligen Schrift, wenn nötig auf Biegen und Brechen, etwa bei der Anerkennung der Ehe eines gleichgeschlechtlicher Paares und dessen kirchlicher Trauung.       Bemerkenswert ist der Beschluß der Rhein. Synode vom Jan. 2016: Wenn ein Pfarrer aus Gewissensgründen eine solche Trauung ablehnt, ist er verpflichtet, dem Paar einen anderen Pfarrer zu benennen, der die Trauung vornimmt. Wäre es nicht subsidiärer, das örtliche Presbyterium würde darüber entscheiden? Denn das örtliche Presbyterium und seine Gemeinde muß doch mit dem Paar weiter zusammen leben.

 

Streiten kann man über die Auslegung, aber nicht um die vorausliegende Wahrheit an sich, die jeder zu wissen - besser: zu glauben - für sich in Anspruch nimmt. Nun wird zwar selten in Presbyterien über theologische Fragen gesprochen, schon gar nicht gestritten. Aber geleitet wird die Sitzung, in den meisten Fällen von dem, der am Sonntag zuvor auf der Kanzel der unwidersprochene Prediger und Zeuge der biblischen Wahrheit war. Luther sagt: Wenn der Prediger nach getaner Predigt von der Kanzel steigt, soll er bei sich selbst sagen: „Deus dixit!“ Die Vermutung liegt nahe, daß er auch ohne Talar in einer Presbyteriumssitzung den Amtsbonus des Zeugen auf der Kanzel genießt, selbst wenn es um Bauangelegenheiten geht. Da fällt Widerspruch schwer.   

 

Die Öffentlichkeit der Gemeinde

 

Öffentlichkeit in der Gemeinde ist schwach ausgebildet. - Gemeindebefragungen mit verbindlichem Ergebnis nach Vorbild von Volksbefragungen, wie in Hamburg 2015 zur Olympiade oder 2018 in Mainz zum Bau eines neuen Gutenberg-museums, gibt es nicht. - Das sei verdeutlicht an dem Familienpapier der EKD „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verläßliche Gemeinschaft stärken - Eine Orientierung des Rates der EKD“, 2013. Ich weiß von keiner Gemeinde, in der diese Denkschrift besprochen worden wäre. Nikolaus Schneider, damals Ratsvorsitzender der EKD, berichtete über die Modalitäten der Veröffentlichung des Papiers am 19. Juli 2013 vor den Emeriti der Rheinischen Kirche in Wuppertal: „Wichtig und entscheidend ist bei der Veröffentlichung, wie die Presse reagiert. Unter ihr sind die maßgeblichen: SPIEGEL und FAZ. Wenn die Zustimmung signalisieren, kann man beruhigt sein.“ (sinngemäß wiedergegeben). Wie und ob überhaupt die Gemeinden - denn in ihnen leben schließlich besagte Familien - darauf reagieren, interessiert die Kirchenleitungen offenbar nicht. Papst Franziskus ließ im Jahr vor der Bischofssynode in Rom, die sich im Oktober 2015 mit dem Thema Familie befaßte, immerhin in allen Diözesen der Erde die Meinung der Katholiken zum Thema erfragen. Aber unsere Evangelische Kirche in Deutschland erzeugt mit ihren „Worten“ und Denkschriften keine Öffentlichkeit vor Ort in der Gemeinde, im Stadtteil. Sie sucht vielmehr, in den Gazetten der veröffentlichten Meinung ein Plätzchen und Zustimmung zu finden.

 

Daneben gilt: Die Verschwiegenheit in Sachen Presbyteriumsbeschlüsse und die beschränkte Auskunftspflicht eines Presbyteriums gegenüber der Gemeinde fördert nicht das teilnehmende Interesse der Gemeindeglieder. Warum im Unterschied dazu die Beschlüsse von Kreissynoden und der Landessynode öffentlich gemacht werden können, ist eine Ungereimtheit. 

 

Die letzten Wahlen (2016) zum Presbyterium in der Rheinischen Kirche sagen auch etwas über die Dauer der Mitgliedschaft in einem Presbyterium: Etwa 50% kandidieren zum wiederholten Male und werden sicherlich auch wieder gewählt. Der Anteil der über mehrere Wahlperioden einem kommunalen Parlament Angehörenden ist vermutlich höher als in kirchlichen Gremien. In Presbyterien kommt es auch häufiger vor, daß Mitglieder vorzeitig ausscheiden und vom Presbyterium durch Kooptation ersetzt werden. Das Kontinuum in einem Presbyterium ist mit Abstand zu den anderen Mitgliedern der Gemeindepfarrer, was zur Verstetigung der „Gemeindepolitik“ und theologischen Ausrichtung in seinem Sinne führt.

 

Der Schwund der Volkskirche

 

Die Zahl der Gemeindeglieder und ihnen folgend der Gemeinden nimmt ab. „Was wir alle intuitiv erwartet haben, zeigen auch unsere Ergebnisse: Die Mitgliederzahl der evangelischen Kirche wird sich bis zum Jahr 2060 in etwa halbieren. Das liegt – und das ist die neue Erkenntnis – aber nur zu knapp der Hälfte am demographischen Wandel – also dem Überhang von Sterbefällen über die Geburten sowie dem Wanderungssaldo. Mehr als die Hälfte des Mitglieder-rückgangs beruht auf Tauf-, Austritts- und Aufnahmeverhalten.“  So Bernd Raffelhüschen im Interview zur Studie „Kirche im Umbruch - Projektion 2060“ vom Mai 2019. (https://www.ekd.de/projektion2060-interview-raffelhueschen-45527.htm)

Dagegen wächst die Verwaltung. Eine ironische Verwirklichung des Mottos „Wachsen gegen den Trend“ aus dem EKD-Papier von 2006 „Kirche der Freiheit“, nach dem nun bereits seit dreizehn Jahren die kirchlichen Landschaften umgestaltet werden, ohne daß irgendeine Synode sich dieses Papier ausdrücklich zu eigen gemacht hätte. Jedenfalls habe ich es nicht in Erfahrung bringen können. Wie infolge des Klimawandels der steigende Meeresspiegel bereits Inseln in der Südsee überspült, so wird das EKD-Papier „Kirche der Freiheit“ in seinem weiteren Vollzug Gemeinden unter sich begraben. Ausdünnung der Ebene, Errichten kirchlicher „Leuchtfeuer“, - um im Bilde zu bleiben - nach denen die Schiffbrüchigen der untergegangenen Gemeinden Ausschau halten können. Statt von Leuchtfeuer sollte man eher von Kirchenkreis-Kirche sprechen.

 

Im Unterschied zu den schwindenden Gemeindegliedern und Gemeinden ist im Zuge der Neuen Kirchlichen Finanzordnung (NKF) und der Verwaltungs-strukturreform die zentralisierte Verwaltung gewachsen. Im zentralen Verwaltungsamt in Essen arbeiten für die 27 Kirchengemeinden rd. 100 MitarbeiterInnen, für den Kirchenkreis (Superintendentur) Essen rd. 50, in zwei nahe beieinanderliegenden Gebäuden in der Innenstadt. Die in Personen manifestierte Verwaltung wächst nicht vor Ort in den angestammten Gemeinden, sondern in der Ferne. Plötzlich stellen Gemeindeglieder fest, daß ihr vertrautes Gemeindebüro - wenn überhaupt - nur noch an wenigen Stunden, an wenigen Wochentagen geöffnet ist. Jemand sagte zu mir: „Das ist genauso schlimm, wie wenn eine Pfarrstelle gestrichen wird.“ Daß die Zusammenlegung von Gemeinden und deren Verwaltungen in ländlichen Gebieten im Vergleich zu einer Großstadt eine kaum zumutbare Verlängerung der Wege und Entfremdung von der Kirche zur Folge hat, kann man sich vorstellen. Schwerwiegender noch ist der Verlust an Kontakten. Einer schrumpfenden Parochialkirche eine neue Finanzordnung mit Doppik zu verordnen - da kommt mir das Bild: einen Koloss auf tönernen Füßen errichten. Haben alle Gemeinden der rheinischen Kirche zuvor über Verwaltungszentrierung  in Gemeindeversammlungen mit ihren Presbyterien beraten und konnten sie dazu Stellung nehmen, wie es KO 35 vorsieht?5

 

Subsidiarität

 

In der Rheinischen Kirche rühmt man sich gerne der Subsidiarität als Merkmal der KO: Entscheidungsprozesse laufen von unten nach oben. Als Erfinderin der Subsidiarität gilt die Flüchtlingssynode von Emden 1571, auf der auch die sieben „Gemeinden unter dem Kreuz“ vom Niederrhein vertreten waren. In ihrem Beschluß zu Classicalversammlungen, § 3, heißt es:  „Wenn in einer Gemeinde der Classis etwas geschieht, was durch ihr Konsistorium ( sprich: das örtliche Presbyterium) nicht belegt werden kann, das soll auf der Classicalversammlung untersucht und entschieden werden, sodann ist eine Appellation an die Provinzialsynode möglich.“ Blickt man auf die NKF (Neue Kirchliche Finanzordnung) zurück, kann man eher sagen: Die Neuordnung wurde in der rheinischen Landeskirche, ebenso wenig in anderen, nicht in aufsteigender Beschlußfolge, subsidiär, beraten und entschieden, sondern eher „obsessiv “, von oben nach unten implementiert.

 

Kirchensteuer

 

Das Verhältnis Kirche und Staat, wie es sich nach 1918 ergeben hat und bis heute besteht, wird gerne als „hinkende Trennung“ bezeichnet, eine Formulierung, die augenzwinkernd das staatliche Inkasso der Kirchensteuer genießt. Das Hinkebein ist keine Behinderung, hat vielmehr einen goldenen Klumpfuß.

Grundlegend ändern werden sich die Verhältnisse, wenn der Einzug der Kirchensteuer nach Konfessionsmerkmal des Steuerpflichtigen durch die Finanzämter fällt. Die FDP hatte 1974 schon einmal die Abschaffung der Kirchensteuer auf ihrem Programm: „Freie Kirche im freien Staat“, konnte damals aber keine Stimmen damit gewinnen. Das kann sich bald ändern. Es werden sich andere Parteien finden, die „Abschaffung der Kirchensteuer“ als werbewirksamen Programmpunkt ansehen, ebenso die Beendigung der jährlichen Staatsleistungen6 an die Kirchen infolge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803.

 

otto per Mille

 

Nach italienischem Vorbild von jedem Steuerpflichtigen eine Kultursteuer, genannt „otto per mille“ zu erheben, über deren Weiterleitung an welche karitative oder kulturelle Institution - darunter auch die Kirche - der Steuerzahler selbst entscheidet - dieses Modell ist von EKD-Fachleuten abgelehnt worden, weil es weniger Geld bringen würde als die derzeit in Deutschland geübte Kirchensteuerpraxis.  „otto per mille“ heißt 8‰ vom zu versteuernden Einkommen.

 

Bemerkenswert ist: Unverhältnismäßig viel Zuwendungen erhält in Italien die kleine Gemeinschaft der Waldenser, weil sie mit ihren karitativen Projekten Zustimmung weit über ihre Mitglieder hinaus erhält. Aber in unseren Landeskirchen gilt: Lieber abwarten, wie lange das dünner werdende Eis der vom Finanzamt nach Konfessionsmerkmal eingezogenen Kirchensteuer noch hält, als nach einem rettenden Ast am Ufer greifen. Die italienische Kultursteuer hat wenigsten den unbestreitbaren Vorteil, daß niemand, um Geld zu sparen, aus der Kirche austritt. Denn „otto per mille“ muß jeder zahlen. Eine gleichmäßige Kultursteuer für alle Steuerpflichtigen, wie in Italien, würde auch in Deutschland dazu führen, daß Kirchen, überhaupt religiöse Vereinigungen, in einen Wettbewerb um die Zustimmung der Steuerzahler und Spender zu ihrem jeweiligen Reden und  Schweigen, Tun und Lassen träten.

 

Wenn die Kirchensteuer fällt

 

Wenn die Kirchensteuer in Deutschland fällt, wird das jetzt vorherrschende Motiv zum Kirchenaustritt zurücktreten, nämlich Kirchensteuer zu sparen. Wer zur Zeit seine Kirchensteuer sparen will, kann dies nur durch „Selbstexkommunikation“ erreichen, eben durch Kirchenaustritt.7  Nach Wegfall der Kirchensteuer wird die Kirche, genauer: die Kirchengemeinde Mitgliederbeiträge erheben und sich mit Zahlungsunwilligen ins Benehmen setzen müssen. Dann wäre die Zahlungs-verweigerung eine Ordnungswidrigkeit, was sie nach Ansicht mancher Juristen    ( z.B. Albert Stein…)schon jetzt unter dem geltenden Kirchensteuerrecht ist, und hätte nicht automatisch den Ausschluß aus der Gemeinde/Kirche zur Folge.

In Presbyteriums-Protokollen meiner Heimatgemeinde aus der Nachkriegszeit, als die Kirchensteuer noch von der Gemeinde selbst eingezogen wurde, lese ich, daß sich der Gemeindekirchenrat hin und wieder mit der Bitte einzelner Gemeindeglieder befaßte, aus bestimmten Gründen ihre Steuer zu senken, wenigstens für ein Jahr. Als Grund taucht z.B. auf: „Meine Tochter will heiraten und braucht eine Aussteuer.“ Infolge dessen waren der Pfarrer und der Gemeindevorstand genötigt, sich mit diesem Gemeindeglied zu befassen, es zu besuchen, mit ihm zu reden, seine Sorgen zu erfahren und andrerseits die finanziellen Notwendigkeiten der Gemeinde zu begründen. Das führte zu verstärkter Kommunikation zwischen Gemeindeleitung und -mitgliedern.

Zwischen einem Gemeindeglied als Kirchensteuerzahler einerseits und seiner Beteiligung am Gemeindeleben seines Wohnorts andrerseits besteht unter der derzeit waltenden Kirchensteuerverteilpraxis kein erkennbarer  Zusammenhang. Das läßt sich verdeutlichen an dem Recht auf „Gemeindezugehörigkeit in besonderen Fällen“ (KO 15). Demnach kann ein evangelischer Christ Gemeindemitglied in einer anderen als in seiner Wohnortkirchengemeinde sein, sogar jenseits der Grenze seiner Landeskirche. Aber seine Kirchensteuer verbleibt bei seiner Wohnortgemeinde.

 

Wenn die Kirchensteuer fällt, wird deutlicher zutage treten, daß es reichere und ärmere Kirchengemeinden gibt. Ein Ausgleich zwischen beiden wird von den Gemeinden selbst auszuhandeln sein, was zu einer Belebung der Debatte über das, was Kirche heute tun muß und lassen kann, führen wird, und zwar vor Ort. Oder anders gesagt: Die Ziele der Debatte werden anders justiert. Heute wissen Gemeindeglieder, die viel Kirchensteuern zahlen, nicht, was sie zum Unterhalt der ärmeren Gemeinden in ihres Kirchenkreises bzw. ihrer Landeskirche beitragen, geschweige denn, zur Finanzierung landeskirchlicher oder EKD-Institutionen und Einrichtungen des ÖRK in Genf oder anderer übergemeindlicher Einrichtungen und Projekte. Wenn große Kirchensteuerzahler das erführen, würden sie sich in kirchliche Belange ihrer Gemeinde und ihrer Stadt einmischen, wozu sie jetzt in Unkenntnis der Umverteilung ihrer Kirchensteuer keinen Anlaß sehen.

 

Die Gemeinde hat das Heberecht auf die Kirchensteuer

 

Noch liegt in der Rheinischen Kirche das Heberecht auf die Kirchensteuer bei der Gemeinde. Was dieses Recht einer Gemeinde (im Genitiv und im Dativ gefragt) wert ist, sei am Beispiel des Kirchenkreises Essen dargestellt. Im Jahre 2018 zählten die 27 Kirchengemeinden 136.393 Gemeindeglieder, 3.000 weniger als im Vorjahr. Das  Kirchensteueraufkommen des Kirchenkreises betrug 41 Mio. . Davon entfallen rechnerisch auf jedes Gemeindeglied 300,60. Von diesem Betrag  bekamen die Gemeinde 90,35 pro Mitglied zur eigenen Verfügung des Presbyteriums. Die 90,35 sind weitgehend gebunden durch Personalkosten des nichttheologischen Personals der Gemeinde, Bauunterhaltung, SEP (Substanzerhaltungspauschale), Buchhaltung im zentralen „Haus der Evangelischen Kirche“. Da bleibt der Gemeinde zur freien Verfügung oder Gestaltung nicht mehr viel übrig.

 

Was ist das Heberecht einer Gemeinde wert, oder weiß die Gemeinde, daß die Kirchensteuer ihrer Mitglieder im Wege des Finanzausgleichs weitgehend ihrer eigenverantwortlichen Verfügung entzogen ist?8 Der automatische Finanzausgleich innerhalb der Rheinischen Kirche bewirkt mit einer jährlichen Progrssion um 0,5 %, daß im Jahre 2023 97% des Kirchensteueraufkommens der Verfügungsgewalt der Gemeinden entzogen sind und das unbeschadet des Heberechts der Gemeinden.

 

 OKR Bernd Baucks, Abteilungsleiter Finanzen und Vermögen der Ev. Kirche im Rhld, berichtete beim Treffen der Emeriti am 19.03.2019 auf dem „Heiligen Berg“ in Wuppertal über die Finanzlage der EKiR und konzedierte u.a.: „Steigende Umlagen schwächen den Entscheidungsspielraum von Presbyterien“ und „Finanzfragen sind zugleich theologische Fragen“. - Wer macht sich Gedanken über die Folgen?

 

Geht es auch ohne Kirchensteuer?

 

Daß es auch ohne staatlich eingezogenen Kirchensteuer geht, zeigt unser Nachbarland. Am 1. Mai 2004 taten sich in den Niederlanden drei Kirchen zu einer Union zusammen, zur Protestantse Kerk in Nederland (PKN). Darunter waren und sind reiche und arme Kirchen und Gemeinden. Jährlich wird nach eingehender Debatte ein Ausgleich herbeigeführt, der Zustimmung findet und die Lebensfähigkeit aller Beteiligten gewährleistet.

Auch die Freikirchen in Deutschland finanzieren sich ohne Kirchensteuer. Als Beispiel nenne ich die altreformierten Gemeinden in der Grafschaft Bentheim und in Ostfriesland, den „Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland“ (KdöR)9 Man beachte: Auch wenn Freikirchen Körperschaften öffentlichen Rechts sind und insofern das Recht hätten, von ihren Mitgliedern - mit staatlicher Hilfe -Steuern zu erheben, verzichten sie aus theologischen Gründen darauf, von diesem Recht Gebrauch zu machen.

Noch gilt in Deutschland dank der Kirchensteuer - und der guten Konjunktur der Wirtschaft -: „An Geld fehlt es der Kirche nicht.10 Aber an Überzeugungskraft.“  Markus Günther schreibt in der FAS 31.01.2016: „Etwa drei Viertel der Kirchensteuereinnahmen werden für Personal und Verwaltung verwendet, gut ein Zehntel geht für den Erhalt der Kirchengebäude drauf. Neben dem Sinnvollen wird auch viel Unsinniges finanziert, vor allem eine immer größere Verwaltung.“ Wissenswert wäre in diesem Zusammenhang, wie sich die Personalkosten auf theologisches und nichttheologisches Personal verteilen, und ob übergemeindliche Funktionspfarrstellen und Gemeindepfarrstellen im gleichen Maße aufgehoben werden.

 

Was wird ein Wegfall der Kirchensteuer bewirken?

 

Wenn die Kirchensteuer fällt, wird sich das Frömmigkeitsprofil der Gemeinden vervielfachen. Einige werden fundamentalistischer, andere liberaler werden. Erweckungsbewegungen wurden in der Vergangenheit von Landeskirchen-leitungen nicht gedämpft, eher begrüßt, weil sie die Gemeinden belebten. Kritisch wurde es für Kirchenleitungen, wenn die Erweckten aus der Landeskirche austraten und sich Freikirchen anschlossen oder freie Gemeinden bildeten. Die Etablierung sog. landeskirchlicher Gemeinschaften war der erfolgreiche Versuch, diese Menschen im Verband der (staats- bzw. volkskirchlichen) Landeskirchen zu halten. Das ist das vorrangige Ziel jeder Kirchenleitung.

 

Liberale Tendenzen der Theologie waren in Deutschland nie Massenbewegungen, entzündeten sich etwa am vormodernen Weltbild der Dogmen (apostolisches Glaubensbekenntnis) und fanden sich bei Intellektuellen und akademisch gebildeten Theologen. An der positivistischen, historisch unkritischen Theologie Karl Barths nach dem Ersten Weltkrieg fanden gerade junge Theologen und Theologiestudenten einen Halt nach den verheerenden mentalen Verwirrungen, die der verlorenen Krieg in deutschen Gemütern angerichtet hatte. Erst recht nach dem zweiten für Deutschland verlorenen Weltkrieg wurde K. Barths Theologie durch den Umstand ins Recht gesetzt, daß ohne ihn die Barmer Theologische Erklärung von 1934 nicht so staatsdistanziert formuliert worden wäre, wie sie heute dasteht und von den meisten Landeskirchen unter die für sie maßgeblichen Bekenntnisschriften aufgenommen wurde. Obwohl sich zur Zeit des Kirchenkampfes innerhalb der landeskirchlichen Gemeinden bekennende Gemeinden bildeten mit eigenen Mitgliedbeiträgen, etablierte sich nach 1945 sehr schnell wieder die Kirchensteuer als alleinige Form des Mitgliederbeitrages.

Auf liberale Tendenzen in der Theologie reagieren Kirchenleitungen empfindlicher als auf konservative. Ein Beispiel ist für mich die vom Rat der EKD 2015 veröffentlichte Denkschrift zum Sühnetod Jesu. Was die Kirchenmitglieder vom Sühnetod Jesu wissen oder halten, ist nicht bekannt. Was die Gemeindepfarrer von diesem Dogma halten, ist auch nicht bekannt. Die EKD könnte sich durch eine (anonymisierte) Umfrage unter ihren Pfarrern Kenntnis verschaffen. Das geschieht aber nicht. Warum nicht? Wahrscheinlich, weil man das Ergebnis ahnt und sich zu Konsequenzen  genötigt sähe, die man nicht will. Also kann man eine solche Denkschrift  am ehesten als Warnung an die eigenen Pfarrer verstehen: „Hüte deine Zunge!“, weniger als eine Mahnung bzw. Glaubenshilfe für Gemeindemitglieder und Kirchensteuerzahler, die von einer solchen Denkschrift ohnehin keine Kenntnis nehmen. Ein Kollege sagte mir einmal: „Was uns rheinische Pfarrer zusammenhält, ist nicht das gemeinsame Bekenntnis, sondern die Regimentskasse in Düsseldorf, aus der wir unsern Sold empfangen.“ Richtig ist freilich, daß ein Pfarrer sorgenfreier leben kann, wenn er monatlich auf seinem Konto einen gleichbleibenden „Sold“ erblickt, berechnet nach beamtenrechtlichen Regeln, als wenn er vom schwankenden Wohlwollen seines Presbyteriums oder dem Spendenaufkommen seiner Gemeinde abhängig wäre.

 

Daß es auch anders geht, zeigt der Fall des holländischen Pfarrers Klaas Hendrikse, der ein atheistisches Manifest geschrieben hat. Die PKN leitete ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn ein, das im Sande verlief, weil seine Gemeinde sich vorbehaltlos hinter ihn stellte, sich tapfer gegen seine Entlassung wehrte und ihn weiter wie bisher bezahlte.

 

Wie dem auch sei: Die in Deutschland von den Landeskirchen, genauer von deren Verwaltungen, gestaltete und verteidigte Kirchensteuer- und Besoldungspraxis hat nach meinem Eindruck auf Pfarrer eine disziplinierende Wirkung und hemmt eine religiöse Erneuerung in den Gemeinden, die allerdings eine vielgestaltige, von oben schwer zu lenkende sein wird und der Vielgestaltigkeit von Religion in den Köpfen und Herzen der heutigen Deutschen entsprechen würde.

 

Wenn die Kirchensteuer fällt, kann es sein, daß die Gemeinden eher konservativer auch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen und politischen Ausrichtung werden. Diese Entwicklung ist im Hinblick auf die USA zu vermuten, wo jede Gemeinde ihre Mitglieder um einen jährlichen Beitrag bittet, nach Maßgabe des Haushaltsvoranschlages für das nächste Jahr. Wer viel hat, kann viel geben. Wer viel hat, ist unter den herrschenden Verhältnissen reich geworden oder geblieben und hat am wenigsten ein Interesse an Veränderungen der politischen Verhältnisse; er ist eher konservativ. Wer viel zu geben hat, dessen Meinung hat in einer amerikanischen Gemeinde Gewicht. Das kann man bedauern, jedoch schwerlich ändern. Aber vermutlich ist der Anteil der Konservativen unter den praktizierenden und interessierten Mitgliedern unserer evangelischen Gemeinden in den Landeskirchen nicht wesentlich geringer als in den USA.12 Ihre Meinung als finanzielle Säule der Kirche ist jedoch nicht gefragt und findet auch keine entsprechende Berücksichtigung.

Kirchensteuer auf Kapitalerträge

 

Bei einem Fall von Rücksichtslosigkeit ging der Schuß allerdings nach hinten los: Auf Betreiben kirchlicher Dienststellen fragten 2015 erstmalig Depotbanken beim Bundeszentralamt für Steuern die Konfessionszugehörigkeit der Bankkunden ab, ohne Rücksprache mit den Depotinhabern. Der Verdacht der Kirchenleitungen bestätigte sich: Es gab unter den Bankkunden Kirchenmitglieder, die ihre Kirchensteuer hinterzogen hatten. Ein beträchtliche Zahl der Ertappten reagierte darauf mit Kirchenaustritt. Dieser Vorgang wird im Finanzbericht der Kirchenleitung der Evang Kirche im Rhld im Januar 2016 so kommentiert: „Auch die Kirchensteuern auf Kapitalerträge liegen deutlich höher als im vergangenen Jahr, was auf das veränderte Einzugsverfahren zurückzuführen ist. Eingehende Kirchensteuern auf Kapitalerträge werden nun direkt und aufkommensnah verbucht. Mit der Umstellung des Einzugsverfahrens bei der Kapitalertragssteuer ergibt sich eine Steigerung von 8,2 Millionen Euro auf über 22,3 Millionen Euro, also deutlich mehr als eine Verdoppelung.“ M.a.W.: Die Austritte der ertappten Kirchensteuerhinterzieher, die ein Depot besitzen, hauen uns nicht um; sie haben ja ohnehin nichts bezahlt. Im Gegenteil: Der Durchgriff auf die steuerpflichtigen Kapitalerträge der Kirchenmitglieder über das Bundeszentralamt für Steuern ist per Saldo gut gelaufen. Die Austritte wurden mit mehr als einem Doppel an Kirchensteuern auf Kapitalerträge wettgemacht.

 

Für mich wirft dieser Vorgang ein grelles Licht auf die Mentalität der verfaßten Evang. Landeskirchen in Deutschland. Was ist das für eine Kirche, die ihre Mitglieder nicht direkt fragen kann: „Hast du deine Kirchensteuern bezahlt?“, sondern hinter deren Rücken über staatliche Ämter ihre Steuerehrlichkeit prüfen läßt? Die ZEIT fragt in einem Interview (21.08.2014, S. 48) - veranlaßt durch die erneute Austrittswelle (Kirchensteuer auf Kapitalerträge) -, Norbert Walter-Borjans, den damaligen Finanzminister von NRW: „Was sollten die Kirchen tun, damit nicht noch mehr Menschen austreten?“ W.-B.: „Bestimmt nicht ihre eigenen Werte über Bord werfen. Sie müssen das Gleichgewicht finden zwischen glaubwürdiger Prinzipientreue und zeitgemäßem Auftreten. Sie müssen ihre Haltung zu den eigenen Mitgliedern überdenken. Da liegt die Verantwortung des Führungspersonals.“   (Kursivsetzung vom Verf. HARo)

 

Das zentrale Inkasso der Kirchensteuer

 

Peter Sloterdijk schreibt zum „,Gesetz der stetigen Erweiterung der Staatstätigkeit‘ “, die von Adolph Wagner (1835-1917), dem rüstigen Entwicklungsoptimisten auf einem Berliner Lehrstuhl, noch durchaus positiv beurteilt wurde [ . . .], indessen wir heute den Komplex aus Etatismus, Fiskalismus und Interventionalismus eher mit skeptischen Blicken betrachten und in ihm mehr und mehr das absurde Theater einer sich selbst dienenden und kontra-produktiven Großinstitution vermuten.“13  Ich kann nicht verhehlen, daß die oberste Ebene unserer kirchlichen Institutionen auf mich einen ähnlichen Eindruck macht.

 

Die  Kirchensteuer erweist sich als ein Narkotikum, das die Finanzexperten der Landeskirchen und ihnen folgend deren Synoden benebelt. Es wird der Tag kommen, wo dieses System wie ein Kartenhaus zusammenbricht, und wir sind nicht darauf vorbereitet. Die Volkskirche implodiert. Die gute wirtschaftliche Konjunktur unseres Landes der letzten Jahre verdeckt allerdings mit steigendem (Kirchen-) Steueraufkommen den Schwund der kirchensteuerpflichtigen Gemeindeglieder. „Die Zahl der Mitglieder (der Evang. Kirche im Rhld) ist in 2018 von 2,544 Millionen auf praktisch genau 2,5 Millionen gesunken. Die Kirchensteuern steigen in diesem Zeitraum um etwa 4% von 894,9 Millionen auf etwa 928 Millionen (geschätzt). Weiterhin gilt also, dass die Abhängigkeit der Kirchensteuerentwicklung von der Einkommensteuerentwicklung größer ist als von der Entwicklung der Mitgliederzahlen. Derzeit wirken sich damit wirtschaftliche Entwicklungen deutlicher auf das Kirchensteueraufkommen aus als die Mitgliederentwicklung. Wir kennen dieses Phänomen aus den vergangenen Jahren.“ (aus dem Finanzbericht der Kirchenleitung auf der Synode im Januar 2019).

Es ist weiß Gott nicht leicht, die protestantische Kirche in Deutschland zu leiten: In der DDR hängte sie notgedrungen ein rotes Taschentuch aus dem Fenster mit der Aufschrift „Kirche im Sozialismus“. In der BRD schwimmt sie ungeniert im warmen Becken des vom wirtschaftlichen Wachstum besessenen Kapitalismus.

 

Denkschriften

 

Das öffentliche und private Interesse am Tun und Lassen der Großkirchen in Deutschland nimmt ab. Allenfalls der sog. Mißbrauchsskandal zeigt noch Wirkung, leider in negativem Sinn. Obwohl er überwiegend die katholische Kirche betrifft, befinden wir Evangelischen uns in einer ungewollten Haftungs-gemeinschaft mit den Katholiken, insofern auch unsere Reputation unter dem Skandal leidet. Es gibt auch eine ungewollte Ökumene.

Ungeachtet des gemeindlichen Desinteresses versucht die EKD unverdrossen, sich mit Denkschriften Gehör zu verschaffen. Wer liest sie? Sind sie Thema in der Gemeinde? Kaum. Denn die sog. Worte und Denkschriften der Kirche werden nicht in Gemeinden initiiert, und ihnen auch nicht vor Veröffentlichung  zur Stellungnahme vorgelegt, sondern vom Rat der EKD und deren Kammern, gelegentlich auch von Synoden der Landeskirchen. Ich verweise dazu auf die Kritik von Wolfgang Schäuble14„In politischen Debatten, etwa über die Flüchtlings- oder Wirtschaftspolitik, bringen sich entschieden vor allem die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und Landeskirchen ein. Sie vertreten Positionen, die dem politisch linken Spektrum zugeordnet werden können. Die ehemalige Ratsvorsitzende Margot Käßmann tritt als Pazifistin auf, in Erinnerung ist ihr Satz von 2010: ‚ „nichts ist gut in Afghanistan“‘. Erst kürzlich sprach sie sich wieder dafür aus, dass Deutschland das Militär abschaffe, ‚ „wie etwa Costa Rica“‘. ‚ „Wir Protestanten können wunderbar streiten über unterschiedliche Positionen“‘, sagte sie auf die Frage nach kircheninternen Diskussionen über solche Positionen, die unter den großen Parteien nur von der Linkspartei geteilt werden. Der amtierende Ratsvorsitzende der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, ist in Sachen der Flüchtlingskrise ein entschiedener Befürworter der Regierungspolitik. Er ist gegen eine Begrenzung der Zuwanderung durch Grenzschließungen und nannte Ängste vor einer Islamisierung Deutschlands ,kleingläubig‘ “. Ob sich evangelische Kirchenführer mit ihren öffentlichen Stellungnahmen zu politischen Themen auf die Zustimmung gerade ihrer aktiven Gemeindeglieder stützen können, ist fraglich. Eine „Studie des Pew Centers . . .macht eines deutlich: Menschen, die ihren christlichen Glauben aktiv praktizieren, stehen autoritären, ausgrenzenden und völkischen Einstellungen statistisch aufgeschlossener gegenüber als Menschen, die der Kirche nur auf dem Papier angehören.“15         Also: Es gibt viel zu reden und zu tun, vor Ort, in den Gemeinden, und das am wenigsten mit Hilfe von EKD-Verlautbarungen.

 

Würde die EKD ihre Empfehlungen auf das Leben der Christen und die Gestalt der Gemeinde vor Ort richten und ihr behauptetes „Wächteramt“ nicht so sehr auf politische Belange des Bundestages ausdehnen, könnte sie sich so manches „Wort“ und so manche Denkschrift sparen.

 

In ihren amtlichen Verlautbarungen pflegt die Kirche gern einen prophetischen Gestus und bedient sich der Worte Jesu. Der Rat der EKD ist in seiner Funktion und in seinen Interessen jedoch eher dem Synhedrion von Jerusalem zu vergleichen. Dessen Interesse war darauf gerichtet, die jüdische Religion vor hellenistischen Verfremdungen zu schützen und den Tempelkult in Jerusalem als wirtschaftliche Basis der Priesterschaft zu erhalten. Die kirchliche Hierarchie - vom Rat der EKD über die Bischöfe und Präsides, Oberkirchenräte und Kirchenräte in den Landeskirchenämtern bis zu den Gemeindepfarrern - sollte sich bewußt halten, daß Propheten nicht viel galten und gelten in ihrem Vaterland und daß der charismatische Wanderprediger Jesus aus Nazareth nicht der Freund der damaligen „Kirche“ war.

 

Vom Kopf auf die Füße stellen

 

Die synodal-presbyterial geordnete evangelische Kirche im Rheinland sollte sich auf ihre reformierten Wurzeln besinnen, zu denen das Prinzip der Subsidiarität gehört: Basis einer presbyterial-synodal geordneten Kirche ist demnach die Gemeinde. In der Praxis des kirchenleitenden Handelns heute wird aber von oben nach unten durchregiert. Dem entsprechend bildet die Gemeinde in der Hierarchie das Schlußlicht. Kirchenrechtlich heißt das z.B.: Ein evangelischer Christ kann sich seine Gemeinde nicht aussuchen - außer er stellt einen Antrag bei seiner Wohnortgemeinde auf Zugehörigkeit zu einer anderen Gemeinde. Er kann sich in seelsorgerlicher Angelegenheit nicht einmal an den Pfarrer seiner Wahl wenden - von Kirchenrechts wegen -, sondern nur an den für ihn zuständigen. Für Ausnahmen ist - von Rechts wegen - ein Dimissoriale nötig. Zum Glück gibt es bei Sorgen um das leibliche Wohlbefinden das Recht auf freie Arztwahl. 

Es gilt, die kirchliche Hierarchie vom Kopf auf die Füße zu stellen, auf die Füße der Gemeinde. Nach betriebswirtschaftlichen Strukturen beschrieben sind zur Zeit die Pfarrer die Filialleiter vor Ort. Der Konzern hat seinen Sitz im Landeskirchenamt.

 

Eine Gemeinde, im Bewußtsein ihrer Vorrangstellung, muß nicht Ausschau halten nach „Leuchtfeuern“, die vom Rat der EKD entworfen wurden. Übrigens: Martin Luther übersetzte das griechische ekklesia lieber mit Gemeinde als mit Kirche. Der Synodale Gustav Heinemann plädierte auf der ersten Kreissynode nach dem Kriege in Essen dafür, daß die unter Gottes Wort versammelte Gemeinde vor Ort das Recht haben müsse, ihre Belange selbst zu regeln.

 

Kommt doch alles darauf an, den Menschen im Ort, im Dorf, in der Stadt, im Quartier einer Großstadt die Gemeinde Jesu Christi als Ort der Teilhabe von Menschen am verheißenen Reich Gottes und Teilnahme an ihren Nöten und Freuden vor Augen zu stellen und erlebbar zu machen. Gemeinde bedeutet zuallererst Gemeinde vor Ort, in alltäglich vertrauter Umgebung mit Menschen, die man auch außerhalb des Gottesdienstes kennt. Eine zukünftige „Leuchtfeuer-Gemeinde“ ist eher einem Philatelistenclub vergleichbar, dessen Mitglieder jährlich von weither zusammen kommen, um sich über ihre Raritäten auszutauschen.

 

Die Zukunft

 

Was wird bleiben von den evangelischen Landeskirchen in Deutschland, wenn die herkömmlichen Parochialgemeinden sich verkrümelt haben?

Wahrscheinlich die Landeskirchenämter, als erloschene Leuchtfeuer der „Kirche der Freiheit“. Vorgezeichnet ist das Ergebnis dieser Entwicklung in der „Klosterkammer Hannover“. Sie ist eine Sonderbehörde des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur. Sie verwaltet ehemals kirchlichen Besitz, unterhält Kirchen und rund 800 Stifter und Klöster, in denen seit Jahrhunderten, seit der Reformation, keine zölibatäre Nonne und kein Mönch mehr lebt. 

 

Hoffnungsvoll sieht die Zukunft aus, wenn man den Vorstellungen von Jürgen Moltmann folgt:

„Wenn es um die Zukunft der verfassten Kirchen in Deutschland geht, wird das Commitment der Gläubigen in der Gemeinschaft vor Ort entscheidend sein. Ein solches Commitment erwächst nur dort dauerhaft, wo Menschen immer wieder neu erfahren, dass es in der Kir­che Jesu Christi um das eigene Leben geht.“ Dazu hat Moltmann, altersweiser Professor für Systematische Theologie in Tübingen, den steuerfinanzierten Landes­kirchen eine prophetische Absage erteilt: «Nur in der versammelten Gemeinde Christi hören die Existenzkämpfe der alten Welt auf und das Leben der zukünftigen neuen Welt Gottes beginnt. Wo eine Gemeinde aus einer Parochie, d.h. aus einem kirchlichen Betreuungsbezirk zu einer Gemeinschaft wird, wird sie selbständig. Es entstehen ein gegenseitiges Anteilnehmen und Teilen und die gegenseitige Hilfe. Es erwachen die Geistesgaben und die Lebenskräfte einer Gemeinde. [...] Wird eine Gemeinde zur Gemeinschaft, dann wird sie auch zur Quelle des Lebens und der Orien­tierung für viele. Natürlich fordert das die aktive Beteiligung der Gemeindeglieder. Aber eine Kirche, die nichts fordert, tröstet auch nicht. In der Zukunft einer säkularen und multireligiösen Gesellschaft wird die Kirche eine freie Kirche wer­den müssen, wenn ihre mündigen Glieder es so wol­len. Eine von staatlichen Zwängen und ökonomischen Privilegien freie Kirche, aber eine Kir­che mit einer universalen Hoffnung auf das kom­mende Reich Gottes und darum mit einer universalen Mission für das gemeinsame Leben in Gerechtigkeit und Frieden.“16

 

Bedenkenswert, auch für die evangelische Kirchen, die Forderung des katholischen Theologen Hubertus Halbfas: „Solange die Kirche durch ihre eigene Struktur und Lebensform keine Gemeinden hervorbringt, die dem einzelnen Christ Stimme und Verantwortung gibt, seinen Erfahrungen und seiner Kompetenz Raum läßt, auch die Kirche mitzugestalten, fehlen die Bedingungen für eine neue Lebensform. „Salz der Erde“, „Stadt auf dem Berge“, „Licht der Welt“ kann nicht der einzelne Mensch für sich sein, sondern nur in Gemeinschaft, in der dieses Verständnis strukturelle Voraussetzungen findet. . . Man kann auch nicht Kirche sein, solange diese sich als pastorale Betreuungs- und Versorgungsinstanz versteht, die mit ihren Einrichtungen weiterhin subtile Herrschaftsinteressen verbindet und einer hierarchisch aufgebauten Bürokratie mehr entspricht als einer Verantwortungs-gesellschaft.“17

 

Denn: »Er, Jesus Christus, hat uns zu Königen gemacht und zu Priestern vor Gott, seinem Vater« (Offb 1,5f). Dieser Jubel wird unserer gottesdienstlichen Versammlung heute morgen in den Mund gelegt. Wir sollen ihn hören als unsere eigenen Worte, als unser eigenes Bekenntnis.18

Ceterum censeo: Vocem populi esse vocem dei.

 

Anmerkungen:

1. Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, internationaler Zusammenschluss von zur Zeit 230 evangelisch-reformierten Kirchen mit zusammen mehr als 80 Millionen Mitgliedern.

2. Vgl. Menno Aden, Doppelte Mitgliedschaft in der Kirche - Eine Empfehlung für klare Verhältnisse, Dt. Pfarrerblatt 3/2017, S. 170 f.

3. Die oft erwogene Abschaffung bzw. Begrenzung von Überhang- bzw. Ausgleichmandaten bei Bundestags- oder Landtagswahlen hat andere Gründe numerischer Art.

4. www.ekir.de/statistik

5. Siehe Beiträge im Dt.Pfr.blatt 10/2015 Martin Honecker, „Zwo Kirchen“? - Fragen zum Kirchenverständnis im Reformprozess der EKD, S.552-555; und 11/2015 Andreas Kahnt, „Die Kirche im Dorf lassen!“ S. 612-617. Honecker: „Die Frage ist, woher denn die EKD eine geistliche Autorität nimmt, über die Reform der Gemeinden zu befinden.“(S.554) Als Honecker den Artikel schrieb, wußte er noch nicht, daß sich die EKD inzwischen auf ihrer Herbsttagung 2015 die Qualität einer Kirche zugelegt hat. War sie doch bislang lediglich ein Verband bekenntnisbestimmter Landeskirchen. - Hier und im übrigen Text steht KO für die Kirchenordnung der Evangelische Kirche im Rheinland. https://www.kirchenrecht-ekir.de/pdf/3060.pdf.de.

6. „Sie liegen derzeit mit 548,7 Mio. auf Rekordniveau und werden von den Bundesländern aufgebracht, ohne Ansehen einer Religionszugehörigkeit der Steuerzahler. . .Wichtigste Einnahmequelle ist die Kirchensteuer, die den Kirchen im Jahre 2017. . . zusammen mehr als 12 Milliarden Euro einbrachte.“ (FAZ 18.04.2019).

7. Siehe Menno Aden, Doppelte Mitgliedschaft in der Kirche in Dt. Pfr.Blatt 3/2017, S. 170 f.

8. Ob die Kirchensteuer vom Kirchenkreis oder zentral von der Landeskirche erhoben wird, macht im Vergleich aller Landeskirchen innerhalb der EKD hinsichtlich der Entscheidung über die Verwendung des Geldes kaum einen Unterschied. „Die Kirchensteuern werden . . . über ein mehrstufiges hierarchisches Verfahren an die Kirchengemeinden weitergeleitet. Der Vorteil dieses Verfahrens besteht in dem quasi automatisch erfolgenden Finanzausgleich zwischen armen und reichen Gemeinden. . . Das Moment der Laienmehrheit wird gerne zur Charakterisierung der evangelischen Kirche in Deutschland im Unterschied zur katholischen bemüht. Faktisch sind die Synoden als Kirchen-,„Parlamente“‘ auch tatsächlich überwiegend mit Laien besetzt. Die Exekutivorgane, denen die Konkretisierung und Ausführung der durch die Laien beschlossenen Beschlüsse obliegt, sind hingegen fest in den Händen theologischer oder juristischer ,„Fach“‘leute, die übrigens in aller Regel auch durch Laien getroffenen Beschlüsse vorbereiten.“ So Hilke Rebenstorf (SI der EKD) in ihrem Vortrag auf der internationalen Fachtagung „Zukunft Kirchengemeinden. Congregational Studies Worldwide am 21.-23. März 1916 im Martin Niemöller Haus Schmitten/Evangelische Akademie Frankfurt.

9. Vgl. Peter Strauch und Ansgar Hörsting, Typisch FEG - Glaube, Lehre & Leben in Freien Evangelischen Gemeinden. SCM Bundes-Verlag Witten 2016

10. Siehe Finanzbericht der Rheinischen Landessynode vom Januar 2019: Gestiegene Kirchensteuereinnahmen bei abnehmender Gemeindegliederzahl.

11. Klaas Hendrikse, Glauben an einen Gott, den es nicht gibt. TVZ 2013,

12. Vgl. FAZ 18.12.2017 INSA-UMFRAGE UNTER GLÄUBIGEN: Kein Kirchgang an Weihnachten. Die positive Absicht, einen Weihnachtsgottesdienste zu besuchen, verteilt sich folgender Maßen: „Bei den Unterstützern der Parteien liegen die Anhänger der Union vorn: Jeder dritte Unionswähler (34 Prozent), jeder vierte AfD- (26 Prozent), FDP- (24 Prozent) und Grünen-Wähler (24 Prozent) gab an, einen Weihnachtsgottesdienst besuchen zu wollen. Das Gleiche tat nur jeder fünfte SPD- (21 Prozent) und nur jeder achte Linken-Wähler (12 Prozent). Man staunt: Die AfD-Geneigten folgen unmittelbar auf die christlich gesonnenen Demokraten. Bevor die Kirche sich kritisch über die AfD äußert, sollte sie die Ermahnung Davids an Joab bedenken: „Verfahrt mir schonend mit meinem Sohn Absalom!“ 2. Samuel 18,5

13. Henze, A. Kann Kirche Demokratie ? Herder 2019, S. 53

14. Moltmann, Jürgen, Die Barmer Theologische Erklärung - ein Bekenntnis? - Vortrag 03.05.2014, im landeskirchlichen Archiv der ELKB in Nürnberghttp://wortmeldungen.de?p=7374

15. Halbfas, Hubertus, Kurskorrektur, Patmos 2018, Seite 184

16. Moltmann, Jürgen, Die Barmer Theologische Erklärung - ein Bekenntnis? - Vortrag 03.05.2014, im landeskirchlichen Archiv der ELKB in Nürnberghttp://wortmeldungen.de?p=7374

17. Halbfas, Hubertus, Kurskorrektur, Patmos 2018, Seite 184

18. Bischof Stephan Ackermann, Trier, in einer Predigt 2011

 

 

 

 

 

 



15 Henze, A. Kann Kirche Demokratie ? Herder 2019, S. 53

16 Moltmann, Jürgen, Die Barmer Theologische Erklärung - ein Bekenntnis? - Vortrag 03.05.2014, im landeskirchlichen Archiv der ELKB in Nürnberghttp://wortmeldungen.de?p=7374

17  Halbfas, Hubertus, Kurskorrektur, Patmos 2018, Seite 184

18  Bischof Stephan Ackermann, Trier, in einer Predigt 2011